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Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Titel: Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cordula Simon
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Haushalte, wo die Blätter als Einkaufslisten missbraucht würden, waren inhaltslose Titel. Ihr Diplom würde vermutlich weggeworfen. Sie hätte Professoren schmieren oder Professorenpenisse lutschen sollen. Dann hätte sie neben diesen auf Bildern in der Zeitung sein können, ein Platz, den sie eingenommen hätte, hätte sie zum richtigen Zeitpunkt hübsche Kleider und noch mehr Make-up getragen. Sie war wohl zu schlecht darin, optimiert konstruktiv-manipulativ zu arbeiten, insbesondere, wenn sie eben erst Verletzungen erlitten hatte, und Anatols Tod sowie die ekelerregende Begegnung mit dem Fremden waren auch nichts weiter als Wunden. Hätte sie einen vernünftigeren Plan gehabt, dann wäre heute schon gestern geschehen und sie nicht noch einmal in die Wohnung gegangen. Sie seufzte in die lichtschwache Küche, ging ins Schlafzimmer, griff nach der Federdecke und dem Kissen, raffte beides zusammen, zog, ohne diese nochmals abzulegen, ihre Schuhe an. Sie nahm sie mit, sie ging, und sie nahm sie mit, die Bettsachen mit den hellen Überzügen, auf denen kleine rosa Blümchen in großen Abständen aufgedruckt waren. Sie wusste, dass es noch zu früh war, war sich aber genauso sicher, dass es zu spät war, um hierzubleiben. Die Doppelgängerin konnte wiederkommen. Sie hielt die Bettsachen vor der Brust, sperrte die Tür ab, als sie ging. Die Decke roch wie der Fremde, roch nach Körperfäule, aber das Meer konnte den Geruch sicher wegspülen.
    Der kleine See, an den sie immer mit den Eltern zum Schwimmen gegangen war, hatte solche Gerüche von ihrem Körper reiben können, mit seinem kalten Wasser. Sie war zu diesem einen Haus gelaufen, und hatte durch das Fenster geschaut, denn die Frau dort soll ein Kind geboren haben, halb Katze, halb Mensch, Söhnchen hatte sie es immer genannt, aber vielleicht war es auch nur ein Zwerg gewesen, ein Kobold. Wie lange hatte sie auch geglaubt, dass der Behinderte, der auf der Deribasovskaja bettelte, der auf Stümpfen, knapp unter den Knien waren sie amputiert worden, ein Zwerg sei. Der Geruch damals aus dem Raum, der Geruch, der das offene Fenster hinauskroch, war sauer, und sie hatte befürchtet, dass er an ihr kleben bliebe. Doch der See hatte das alles in Ordnung gebracht. Vom Grund des Sees aus konnte sie die Welt geruchsfrei, wenn auch etwas verzerrt, beobachten. Vom Grund des Meeres aus würde sie sehen, wie der Himmel Wellen warf. Sie kam gerade an dem Haus vorbei, das unter der Schneelast des Winters seine Kuppel eingebüßt hatte. Sie trauerte der Kuppel hinterher, als trauerte sie einem Menschen, Tolik, hinterher. Sie war oben gewesen, war das halb verfallene Gebäude nachts mit einem Tetrapak Wein hinaufgeschlichen. Im Treppenhaus lag Laub und es stank nach Urin, aber oben war es frisch und ruhig. Sie war Auge in Auge mit dem Turm der Kathedrale, der ihr sagte, das es drei Uhr früh war und sie alle ihre Arbeit umsonst getan hatten. Und sie wollte darüber klagen, sich bei jemandem beklagen, es wäre Anatol gewesen, der sie in den Arm hätte nehmen sollten, stattdessen hatte sie sich an die Kuppel gelehnt. Der Tag, an dem der Laborleiter sich hatte loben lassen, von den Finanziers, für das, was sie getan hatte, ohne ihnen auch nur ihren Namen zu nennen. Die Kuppel war also nicht mehr, Tolik war nicht mehr. Sie hielt kurz an, krallte sich an den Bettsachen mit der linken Hand fest, holte den Wohnungsschlüssel aus der rechten Hosentasche. Wozu hatte sie ihn überhaupt mitgenommen. Sie blickte ihn kurz an, ließ ihn zu Boden fallen, warum sie so etwas Schweres wie den massiven Schlüssel ihrer ebenso massiven Tür überhaupt so lange mit sich herumgetragen hatte. Er klirrte, als er auf dem Asphalt auftraf – es war doch gleich, alles war ihr gleich, dachte sie, griff die Federdecke wieder mit beiden Händen und ging weiter.
    Nicht Anatols Geruch war es, den sie einatmete, Anatol konnte nicht nach Verwesung riechen. Ihr Tolik war ein sauberer Mensch, der im Sommer mit nacktem Oberkörper seine Kleidung im Hof auswusch. Hätte er gefragt, sie hatte eine Waschmaschine, die er hätte benutzen dürfen, aber sie hatte es nicht von sich aus angeboten, sonst hätte sie das nasse Schauspiel zerstört. Anatol würde nie riechen, wie alte Menschen rochen, denn er war nicht alt und nicht alt geworden. Sie ging durch den Park Ševčenko, sie konnte den Hafen sehen, mit den Kränen. Am Hafen hießen alle Hunde Pirat. Wie schön es doch war, dass sie nicht mehr hier sein musste, wenn die

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