Der Preis der Ewigkeit
„Calliope hat in letzter Zeit ihre Erscheinung verändert, zuletzt hat sie ausgesehen wie eine exakte Kopie von mir, bloß blond und älter. Die Haarfarbe von diesem Mädchen hier kann man nicht erkennen, aber die Nase ist definitiv die von Calliope.“
Für einen langen Moment hielt James meinen Blick fest, doch schließlich wandte er sich wieder dem Relief zu. „Hast recht“, sagte er. „Das muss wohl Calliope sein.“
Am liebsten hätte ich ihn dafür umarmt, dass er für mich log, und ihn gleichzeitig dafür geohrfeigt, dass er es so schlecht machte. Stattdessen brachte ich ein kleines Lächeln zustande und legte Henry den Arm um die Taille. „Siehst du? Es sind Kronos und Calliope. Was anderes würde ja auch gar keinen Sinn ergeben.“
Henry atmete aus, als hätte er während des gesamten Wortwechsels die Luft angehalten. Vielleicht hatte er das wirklich. „Natürlich“, murmelte er. „Mein Fehler.“
Henry war nicht dumm, doch ich hatte nicht gelogen – Calliope sah meiner Mutter und mir dieser Tage tatsächlich wesentlich ähnlicher. Mit etwas Glück würde das als Tarnung reichen, bis Henry sich erholt hatte. Und dann war sein Eingreifen vielleicht das Zünglein an der Waage für den Rat. Vielleicht wäre das genug, um Calliope zu Fall zu bringen und Kronos doch noch wieder einzufangen.
Nicht einen Moment länger konnte ich mir dieses Bild ansehen, deshalb zog ich Henry und James mit mir an den Rand des Parthenons. Gemeinsam blickten wir von Neuem auf die Verwüstung hinab, doch diesmal fühlte sich Henrys Griff um meine Finger an wie Stahl. Um nichts in der Welt würde er mich aufgeben und genauso war es bei mir.
Ich wusste nicht, wie lange wir dort standen. Minuten. Stunden. Jahre. Ich war verloren in der Ewigkeit, wartete auf etwas, das mich daran erinnerte, dass es dort draußen immer noch eine Welt gab. Einen Ort, für den es sich zu kämpfen lohnte, auch wenn Athen ausgelöscht war. Eine andere Zukunft als die, die Kronos für mich vorgesehen hatte. Es war nicht hoffnungslos, noch nicht, und das durfte ich auf keinen Fall vergessen. Das Meer wurde immer düsterer, Schaumkronen erschienen auf den Wellenkämmen, schwere Wogen krachten hart an die Küste. Dann schoss etwas über den Himmel wie ein Feuerwerk.
Ich blinzelte. „Was war das?“
„Was war was?“, fragte James, als ein weiterer Funke am dunkelvioletten Abendhimmel zu sehen war.
„Das“, gab ich zurück, als noch einer folgte und dann noch einer. „Leuchtraketen?“
„Nein“, antwortete Henry. „Die Abenddämmerung ist gekommen und der Olymp ist über uns. Der Rat greift die Insel an.“
Mir gefror das Blut in den Adern. Abgesehen von jenen kurzen Momenten, als Henry über die Insel hereingebrochen war, hatte ich den Rat nie in seinem eigenen Reich kämpfen sehen. Damals in der Unterwelt waren die Kräfte der Ratsmitglieder unwirksam gewesen, doch hier an der Oberfläche mussten sie sich mit aller Macht in die Schlacht werfen.
Doch zu welchem Preis? Wen würde es als Nächsten erwischen? Meine Mutter kämpfte mit ihnen. Würde sie es sein?
Ich schluckte schwer und die Sicht verschwamm mir vor den Augen. Als ich das letzte Mal mit ihr gesprochen hatte, war ich ein selbstbezogenes Gör gewesen. Ich hatte ihr keine Gelegenheit gegeben, zu erklären, warum sie die Identität meines Vaters geheim gehalten hatte. Was, wenn das die letzten Worte wären, die ich je zu ihr gesagt hatte?
„Ich sollte ihnen helfen“, meinte James und wollte sich von mir lösen, doch ich hielt seine Hand fest.
„Pass auf dich auf“, beschwor ich ihn. „Und sorg dafür, dass meine Mutter heil nach Hause kommt.“
Er drückte mir einen Kuss auf die Wange. „Natürlich. Wir sehen uns in ein paar Minuten.“
In ein paar Minuten? James marschierte in Richtung Mitte des Parthenons und nach wenigen Metern begann er zu leuchten. Bevor ich noch einen erstaunten Ausruf ausstoßen konnte, verwandelte auch er sich in eine leuchtende Spur am Himmel, die zu den anderen hinaufschoss.
„Du lieber Himmel“, entfuhr es mir, als ich seinen Weg verfolgte. „Ich hatte ja keine Ahnung, dass wir so was können.“
„Sie sind am mächtigsten, wenn der Olymp in der Nähe ist“, erklärte Henry. „Wie James schon gesagt hat, der Kampf wird nicht lange dauern. Komm. Wir müssen zurück an einen Ort, wo du in Sicherheit bist.“
„Und du“, erinnerte ich ihn bestimmt. Er konnte zwar so tun, als ginge es ihm gut, aber mich täuschte er damit nicht.
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