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Der Preis der Ewigkeit

Der Preis der Ewigkeit

Titel: Der Preis der Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aimée Carter
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wohin er wollte.
    „Mach dich auf was gefasst“, warnte er mich, als wir durch eine Kurve gingen. „Das wird nicht leicht.“
    „Dafür bin ich auch nicht hier“, murmelte ich. Henry sagte nichts, entwand seinen Arm aber meinem Klammergriff und legte ihn mir stattdessen um die Schultern. Wärme breitete sich in mir aus, und auch wenn es nicht ausreichte, um mich zu entspannen, half es doch ein wenig. Henry an meiner Seite zu haben, wirkte wahre Wunder.
    Wir erreichten das Ende der Kurve. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte – noch mehr grüne Hügel, noch mehr Bäume, noch mehr Griechenland … Doch als ich erfasste, was da vor uns lag, blieb ich mit offenem Mund und wie erstarrt stehen.
    In der Ferne glitzerte das Meer, bedrohlich aufgewühlt in der nahenden Dämmerung. Davor, wo einst Athen gelegen hatte, war nichts. Land, das einst dicht bebaut gewesen war, wo Menschen ihren Geschäften nachgegangen waren und ihr Leben gelebt hatten, war jetzt eine braune Ödnis. Wo einst Wolkenkratzer gestanden hatten, lag jetzt nur noch Schutt, und auch wenn zwischen den Ruinen verstreut einige Rettungsteams arbeiteten, hätte ich niemals erraten, dass dies noch vor wenigen Tagen Athen gewesen war.
    „Es ist weg“, flüsterte James, und blind tastete ich herum, bis ich seine Hand fand. Seine Finger waren kalt. „Es ist einfach … weg.“
    Henry auf meiner anderen Seite nahm die Szenerie vor uns eisig schweigend auf. Als ich mich lange genug von der Verwüstung losreißen konnte, um nach seiner Reaktion zu sehen, ergriff mich eine Woge der Übelkeit. Er sah nicht im Geringsten anders aus. Seine Miene war unbewegt, seine Augen wirkten distanziert, doch in seinem Blick lag kein Entsetzen. Nur dieselbe Trauer, die immer darin zu lesen war.
    Dies war seine Realität. Seit Äonen umgab er sich mit dem Tod; warum hätte es in irgendeiner Weise anders für ihn sein sollen, ihm an der Oberfläche zu begegnen, als die Toten in der Unterwelt zu sehen? Sie zu regieren, über ihre Lebenszeit zu urteilen, die Schicksale jener zu bestimmen, die selbst nicht wählen konnten?
    Trotz dieser Erklärung lief es mir bei der stummen Akzeptanz, mit der er auf die Ruinen hinabstarrte, kalt den Rücken hinunter. So wollte ich niemals aussehen. Niemals wollte ich das Gefühl entwickeln, der Tod wäre kein großer Verlust, denn für die Familien und Freunde und Liebsten, die Athens Bevölkerung zurückgelassen hatte, war er grauenvoll.
    Ich lehnte mich an Henry, und zu dritt standen wir dort, durch die Grausamkeit des Anblicks, der sich uns bot, miteinander verbunden. Wie konnte irgendjemand, der behauptete, lieben zu können, so etwas tun?
    Doch Kronos war nicht sterblich. Menschliche Bande oder die Auswirkungen des Todes und die Angst davor verstand er nicht. In seiner Wahrnehmung hatte er nichts weiter getan, als einen Ameisenhaufen vom Wegrand gespült, ohne einen Schimmer, dass die Folgen Millionen treffen würden.
    Doch, er wusste es. Er wusste genau, was er getan hatte. Es war ihm einfach nur egal.
    „Können wir – schaffen wir es von hier aus bis zum Parthenon?“, fragte ich. „Vielleicht hat Kronos was zurückgelassen oder …“
    „Hier gibt es nichts als Schutt und Schlamm“, entgegnete James.
    „Ich weiß, aber …“
    Henry drückte meine Hand. „Ich bringe dich hin.“
    Bevor ich protestieren konnte, löste die Welt um uns herum sich auf und wir landeten mitten in den antiken Ruinen. Der Himmel über uns war eine Symphonie von Farben, ein harter Kontrast zu der Verwüstung dort unten.
    „Alles in Ordnung?“, vergewisserte ich mich bei Henry und betrachtete ihn. Er war blass, und auf seiner Stirn lag ein feiner Schweißfilm, doch er nickte.
    „Ich werd’s überleben. Lasst uns nach diesem Hinweis suchen.“
    Aus seinem Tonfall wurde deutlich, dass er derselben Meinung war wie James – nämlich dass Kronos auf keinen Fall irgendeine Art Zeichen für uns hinterlassen hätte –, aber wir mussten es versuchen. Langsam wanderte ich durch das bröckelnde Monument, auf der Suche nach irgendetwas, das nicht ins Bild passte. Natürlich hatten James und ich den Parthenon in meinem ersten Sommer ohne Henry besucht, aber damals hatte ich kaum auf die Details geachtet, weil mich die Aussicht so begeistert hatte. Jetzt wünschte ich, ich hätte besser aufgepasst.
    Wonach suchte ich? Die Säulen sahen aus wie vorher. Trotz der Zerstörung weiter unten hatte der Rat richtiggelegen: Diese Ruinen hatte Kronos in Ruhe gelassen.

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