Der Preis der Ewigkeit
immer wieder, wie ein paar Minuten in der Gegenwart meiner Mutter so schnell verstreichen konnten, dass ich sie kaum wahrnahm. Wenn ich jedoch wusste, dass ich sie vielleicht niemals wiedersehen würde, dehnten sich jene Minuten zu Stunden, und meine Welt wurde immer kleiner, bis ich nur noch an meine Mutter denken konnte.
„Erzähl mir von ihm“, wisperte Henry, als sei er mit den Gedanken am anderen Ende der Welt.
„Von Milo?“
„Ja.“ Er verschränkte seine Finger mit meinen. „Wie ist er?“
Offenbar wollte er mich ablenken und mir schwoll das Herz vor Dankbarkeit. Ich räusperte mich und sagte leise: „James hat mir beigebracht, wie ich ihn dir zeigen kann. Fühlst du dich jetzt stark genug?“
Das Strahlen auf seinem Gesicht war jedes Schuldgefühl wert, das ich dafür empfand, mich in diesem Moment mit etwas anderem als meiner Mutter zu beschäftigen. „Ja. Das wäre wundervoll.“
„Und … und du bist dir sicher, dass Kronos dich nicht sehen kann?“
Liebevoll strich er mir mit dem Daumen über die Knöchel. „Ich werde dafür sorgen.“
Henry in das Kinderzimmer in Calliopes Palast mitzunehmen, fühlte sich an, als würde ich ihn durch Treibsand zerren, genau wie mit James. Ich hatte keine Ahnung, was ich zu Kronos sagen sollte. Konnte ich ihn sein Spiel weiterspielen lassen? Oder hatte ich mich schon mit James verraten? Und was war mit Henry? Was, wenn Kronos etwas sagte, das meine Lüge im Parthenon entlarvte? Aber ich musste einfach dafür sorgen, dass Henry unseren Sohn sah. Ich musste ihm Milo zeigen, für mehr als bloß einen Augen…
Etwas riss mich zurück auf den Olymp. In diese Richtung gab es im Gegensatz zu meinem Weg in die Vision keinen Widerstand und augenblicklich stürzte ich zurück in die Realität. Wieder fühlte es sich an, als stiege ich aus tiefem Wasser an die Oberfläche. Ich öffnete den Mund, um mich zu beschweren – überzeugt, es wäre wieder James –, doch meine Mutter zog mich in ihre Arme, bevor ich auch nur ein Wort herausbrachte.
„Kate.“ Ihre Stimme hüllte mich ein, erstickte meine Frustration im Keim. Ihre Haut war kalt, doch sie war am Leben.
Jeder Rest Selbstbeherrschung verließ mich. Ich stand kurz davor, in Tränen auszubrechen, und ich drückte sie so fest an mich, wie ich es wagte. Ihr Leib fühlte sich so zerbrechlich an wie ein Vögelchen, so federleicht wie in den letzten Tagen ihres sterblichen Lebens. „Es tut mir leid – es tut mir so leid, Mom. Was ich da gesagt hab, ich hab’s nicht so …“
„Ich weiß“, unterbrach sie mich leise. „Ist schon gut. Ich bin einfach nur froh, dass du in Sicherheit bist.“
Ich hätte sie noch ewig im Arm halten können, darauf wartend, dass sie wieder warm wurde, doch sie löste sich von mir. Hinter ihr versammelten sich die anderen, alle deutlich angeschlagen, doch niemand blutete.
„Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht zu ihr gehen“, tadelte meine Mutter jetzt, und ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie mit Henry sprach. „In deinem Zustand hättest du nirgendwohin gehen sollen.“
Henry verzog das Gesicht und legte mir eine Hand auf den Rücken, als hielte er es keinen Moment aus, ohne mich zu berühren. Darüber würde ich mich bestimmt nicht beschweren. „Du wärst genauso wütend gewesen, wäre ich hiergeblieben“, erwiderte er.
„Vermutlich“, gab meine Mutter zu und küsste uns beide auf die Stirn. „Danke, dass du auf sie aufgepasst hast.“
„Hey, und was ist mit mir?“, ertönte James’ Stimme hinter ihr. Sie trat beiseite, um Platz für ihn zu machen. „Die meiste Arbeit hab ich gemacht.“
„ Du musstest unbedingt in New York abspringen statt in Johannesburg, wie ich’s dir gesagt hatte“, raunzte meine Mutter ihn an. „Du hättest sie schon vor Tagen wieder herbringen können.“
Verlegen zuckte James mit den Schultern. „Na ja, äh … Henrys Zustand war doch stabil, und ohne einen Weg kann man es schließlich nicht Reise nennen.“
„Jetzt tu nicht so, als wäre es hier um irgendetwas anderes gegangen, als dass du mehr Zeit mit ihr verbringen wolltest“, schaltete sich Henry ein.
James grinste. „Kannst du mir daraus wirklich einen Vorwurf machen? Sie ist doch die Einzige von euch, die sich länger als bloß ein paar Minuten mit mir abgibt.“
„Woran das wohl liegt“, kommentierte meine Mutter und stieß ihn mit der Hüfte an. Er feixte nur, während seine übergroßen Ohren rot anliefen.
Hinter ihnen räusperte sich
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