Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
geprägten mediterranen Ländern. 2006 betrug der Anteil der außerehelichen Lebendgeburten in Schweden und Großbritannien 55 bzw. 44 Prozent, in Italien dagegen nur 18 Prozent. Die mit Abstand geringsten Quoten wiesen dieorthodoxen Länder Griechenland und Zypern mit jeweils knapp über fünf Prozent auf.
Quelle: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Gender Datenreport 2005, http://www.bmfsfj.de/Publikationen/genderreport (19.2.2010).
In den meisten europäischen Ländern wiesen also alle Daten auf eine dynamische Veränderung der Privatheitsformen hin. Sowohl der weibliche wie auch der männliche Lebenslauf erfuhren einen fundamentalen Wandel. Die Familiengründungen gingen nachhaltig zurück, andere Lebenslaufoptionen gewannen an Bedeutung. Die im Westen schon weit fortgeschrittenen Basisprozesse der Individualisierung und Pluralisierung von Lebensformen und Lebensstilen setzten sich nun auch in den osteuropäischen Gesellschaften durch. Insofern läßt sich bei aller Vorsicht von der Herausbildung eines gemeinsamen europäischen Trends sprechen.
Der wichtigste Indikator hierfür war neben der Fertilitätsquote der Frauen ihre Beteiligung am Arbeitsmarkt. Bis 1989 hatten in den osteuropäischen Staaten der kommunistische Regimewille und eine breite Versorgung mit Kinderbetreuungseinrichtungen die weibliche Erwerbsquote in die Höhe getrieben. 1980 betrug in Ungarn oder der Tschechoslowakei der Anteil der erwerbstätigen Frauen an der erwerbsfähigen weiblichen Bevölkerung mehr als 60 Prozent.[ 91 ] Dies war weitaus mehr als der Durchschnitt der westeuropäischen Gesellschaften, wo die Frauenerwerbsquote allerdingsebenfalls kontinuierlich anstieg. Nach dem Systemumbruch ließ sich ein doppelter Prozeß beobachten: In den west- und südeuropäischen Gesellschaften stieg der Anteil an erwerbstätigen Frauen weiterhin an; in den meisten postkommunistischen Gesellschaften sank er dagegen ab. Individuell stark empfundene Marktunsicherheit, Verlust des Arbeitsplatzes, aber auch der Abbau an Kinderbetreuungseinrichtungen wirkten hierbei zusammen. Beachtenswert waren allerdings auch hier die regionalen Differenzen.
Während sich etwa im Baltikum eine hohe weibliche Erwerbsquote von deutlich über 60 Prozent etablierte, sank sie in Polen vorübergehend unter 50 Prozent und erreichte im Jahre 2008 erst wieder 52,4 Prozent. Tatsächlich entfaltete sich in Polen eine im osteuropäischen Vergleich singuläre Retraditionalisierung der Geschlechterrollen. Im Kontext eines massiven Arbeitsplatzabbaus suchten maßgebliche politisch-gesellschaftliche Kräfte an katholische Vorkriegstraditionen anzuknüpfen und die Geschlechterordnungen entsprechend zu verschieben. So verabschiedete der Sejm 1993 nicht nur ein – im übrigen Europa vielkritisiertes – faktisches Abtreibungsverbot, sondern Frauen wurden auch in der staatlichen Sozialpolitik primär in ihrer Rolle als Mutter und Hausfrau betrachtet. Hiermit korrespondierte eine im EU-Vergleich besonders starke Unterrepräsentation von Frauen im politischen Leben sowie in beruflichen Spitzenpositionen.[ 92 ]
Unter diesen Bedingungen empfanden nicht wenige Zeitgenossen den Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft primär als Verlusterfahrung.[ 93 ] Waren Frauen also die Verliererinnen der Systemtransformation? Nicht nur in Polen, sondern praktisch in allen postkommunistischen Gesellschaften und nicht zuletzt auch in den neuen deutschen Bundesländern konnte sich dieser Eindruck anfangs festsetzen. Erst ein rundes Jahrzehnt nach dem Umbruch begann die Sozialforschung neue, durch Wende und Globalisierung überhaupt erst geschaffene Möglichkeiten für Frauen zu betonen. Neben den neuen Freiheiten und Gestaltungsmöglichkeiten betraf dies auch neue Tätigkeitsfelder im Erwerbsleben. Die Hebung des Bildungsniveaus unter Frauen korrespondierte mit dem Anstieg von Arbeitsplätzen im Dienstleistungssektor. Auch wenn es sich dabei häufig um schlecht bezahlte Teilzeitarbeitsplätze handelte, verbreiterten sie doch die Wahlmöglichkeiten insbesondere jüngerer Frauen.
Mithin stellte sich trotz der zum Teil extremen Unterschiede und der fortbestehenden inneren Gegensätze nach 1989 allmählich ein gemeinsamer Erfahrungsraum ein. Individualisierung und Pluralisierung wurden nun auch in den postkommunistischen Gesellschaften zu den prägenden Kräften der im Sozialismus stark normierten und außengeleiteten weiblichenBiographien. So signalisiert insbesondere die
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