Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
Beschäftigtenquote der Frauen im Alter von 15 bis 64 Jahren, wie sich die Lebensverhältnisse in Europa allmählich anglichen. Im Durchschnitt nämlich stieg diese Quote, die den Anteil der tatsächlich erwerbstätigen Frauen (ohne arbeitslos Gemeldete) erfaßt, beständig an.
Quelle: Eurostat
Damit näherte sich die Frauenerwerbsquote jener
benchmark
von etwa 70 Prozent, die von den skandinavischen Ländern gesetzt wird. Man kann daher fragen, ob nicht vom gesellschaftspolitischen Modell Schwedens (aber auch der anderen skandinavischen Länder) eine Art langfristige Vorbildwirkung für das restliche Europa ausgeht. Alle relevanten Parameter weisen hier nämlich auf ein besonders hohes Maß an individuellen Wahlmöglichkeiten hin, mittels derer sich private Lebensentwürfe gestalten lassen. So gibt es in Schweden kein weltanschaulich ähnlich festgefügtes Familienbild wie in den stark katholisch geprägten Ländern. Dementsprechend spielt die Ehe als Lebensform eine minder wichtige Rolle, und mehr als die Hälfte der Kinder werden außerhalb der Ehe geboren. Die wohlfahrtsstaatliche Tradition Schwedens unterstützt diese Tendenzen. Weitgehend steuerlich finanziert, ist sie gekennzeichnet durch eine politisch-gesellschaftlich gewollte öffentliche Bereitstellung sozialer Dienstleistungen wie zum Beispiel im Bereich der Kinderbetreuung. Dadurch werden einerseits die Wahlmöglichkeiten für Frauen und Mütter erhöht, andererseits aber auch Arbeitsplätze für Frauen geschaffen. Die in Schweden zu beobachtende hohe Fertilität bei gleichzeitig hoher weiblicher Beschäftigungsquote lassen vermuten, daß damit wichtige Lebensplanungsbedürfnisse junger Menschen erfüllt werden.
Über Qualität und Bezahlung der Arbeitsplätze von Frauen sagen die statistischen Rohdaten freilich nichts aus. In ganz Europa bestand (und besteht nach wie vor) ein Trend zum geschlechtsspezifisch segmentierten, doppelten Arbeitsmarkt. Frauen übernahmen überdurchschnittlich häufig minder qualifizierte und schlechter bezahlte Arbeiten. Zugleich legte das Beispiel Schwedens aber auch die Vermutung nahe, daß hier eine gleichsam «reife» Entwicklungsstufe erreicht worden war: eine Entwicklungsstufe, in der zwar eine nachhaltige Angleichung weiblicher und männlicher Erwerbsbiographien stattgefunden hatte, eine noch weitergehende Homogenisierung aber nicht zu erwarten stand. Denn die Beschäftigungsquoten der schwedischen Frauen verharrten bereits seit Jahrzehnten auf hohem Niveau und waren offenkundig nicht mehr zu steigern. Auch in Frankreich ließ sich seit den 1990er Jahren eine allmähliche Abkehr vom Leitmodell der vollzeitarbeitenden Mutter beobachten. Wie in anderen Ländern auch – etwa in den Niederlanden, in Österreich oder Deutschland – spielte weibliche Teilzeitarbeit eine immer wichtigere Rolle, und entsprechend gewann das «Ernährer-Zuverdienerin-Modell» eine dominante Bedeutung. Konkret führte dies zur Polarisierung zwischen Frauen, die mit Kindern eine (Vollzeit-)Erwerbskarriere verfolgten und jenen Frauen, die aufgrund familiärer Pflichten ihre Erwerbstätigkeit reduzierten oder den Arbeitsmarkt sogar ganz verließen.[ 94 ]
Allerdings reicht es nicht aus, allein auf den weiblichen Lebenslauf zu blicken. Denn im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts erfuhr auch der männliche Lebenslauf einen fundamentalen Wandel. In den westlichen Gesellschaften erodierte bereits vor 1989 die Vorstellung, das Auskommen der Familie habe auf dem Lohn eines einzelnen (männlichen) Ernährers zu beruhen. Als normatives Modell hatte diese Idee der Einverdienerfamilie bis in die 1970er Jahre nachhaltigen Einfluß ausgeübt. Seit den 1980er Jahren aber kam diese Norm an ihr Ende. Zwischen 1978 und der Mitte der 1980er Jahre gingen in Westeuropa Millionen industrieller Arbeitsplätze verloren. Im «postfordistischen» Zeitalter konnte es daher auch für den Durchschnittsverdiener zunehmend schwierig werden, die Kosten aufzubringen, wenn es mehr als ein Kind, aber nur einen «Ernährer» gab. Tatsächlich fiel die ökonomische Basis für das Einverdienermodell – der stabile, lebenslange, eben «fordistische» industrielle Arbeitsplatz – dem beschleunigten Strukturwandel seit den 1970er Jahren zum Opfer. In der Konsequenz faserte auch die männliche Normalerwerbsbiographie aus. Seit 1980 ging die männliche Erwerbsquote – in geradezu umgekehrter Tendenz zur Beschäftigungsentwicklung der Frauen – in allen westeuropäischen Ländern
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