Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
durchschnittliche Geburtenrate, obwohl vor allem in Ostmitteleuropa der Rückgang bereits spürbar war. Diese Tendenz beschleunigte sich nach 1989. In allen Transformationsgesellschaftensank die Fertilitätsquote deutlich ab. Bis zur Jahrtausendwende blieben die ostmitteleuropäischen Gesellschaften sogar hinter dem EU-Durchschnitt zurück. Umgekehrt gab es in den westlichen Gesellschaften einige Besonderheiten. So profitierte Frankreich, das im Jahre 2006 (neben Island) als einziges europäisches Land eine Fertilitätsquote von 2,0 erreichte, von seiner langfristigen finanziellen und institutionellen Förderung der Familien im allgemeinen und des «dritten Kindes» im besonderen. Doch auch wenn man die nach wie vor erheblichen Unterschiede der europäischen Regionen in Rechnung stellt, so ist insgesamt doch eine klare europaweite Angleichung der Fertilitätsquote zu beobachten.
Fertilitätsquote
Geburten pro Frau im gebärfähigen Alter
1960
1980
1989
1995
2000
2006
EU 15
2,67
1,72
---
1,50
---
1,55
Deutschland
2,37
1,56
---
1,25
1,38
1,32
Italien
2,50
1,64
1,33
1,18
1,26
1,34
Frankreich
2,83
1,88
---
1.71
1,89
2,00
Großbritannien
2,86
1,90
1,79
1,71
1,64
1,84
Schweden
2,25
1,68
2,01
1,73
1,55
1,85
Tschechien
2,11
2,10
1,87
1,28
1,14
1,33
Ungarn
2,02
1.91
1,82
1,58
1,33
1,34
Polen
2,76
2,33
---
1,61
1,37
1,27
EU 27
2,23
1,79
---
1,56
---
1,50
Quellen: Steffen Mau u. Roland Verwiebe, Die Sozialstruktur Europas, Konstanz 2009, S. 94. Eurostat.
Fertilitätsquoten in Europa 1950–2005
1950–1955
1975–1980
2000–2005
Nordeuropa
2,32
1,81
1,61
Westeuropa
2,39
1,65
1,58
Südeuropa
2,65
2,25
1,32
Osteuropa
2,91
2,08
1,18
Europa insgesamt
2,66
1,97
1,38
Quelle: Laura den Dulk, Changing Norms of Masculinity and Feminity: Development of Gender Relations and Family Structures in Europe, in: Klaus Larres (Hrsg.), A Companion to Europe since 1945, Oxford 2009, S. 450–471, hier S. 457.
Der scharfe Knick in der Fertilitätsquote der ostmitteleuropäischen Frauen nach 1989/90 – wie er sich anfangs besonders stark in der Tschechischen Republik ausprägte – besaß wichtige Ursachen in der hier angewendeten marktwirtschaftlichen «Schocktherapie». Sie korrespondierte mit dem Verlust an Förderung und sozialer Sicherheit. Die Statistik offenbarte, daß etwa in Polen die Wahrscheinlichkeit der Armut mit der Zahl der Kinder ebenso proportional wie dramatisch anwuchs. 1994 fielen nur 3,7 Prozent der verheirateten Paare ohne Kinder unter die statistische Armutsgrenze. Auch Familien mit einem Kind waren mit 5,2 Prozent der Fälle verhältnismäßig selten arm. Danach verdoppelte sich die Zahl der durch Armut gekennzeichneten Haushalte mit jedem weiteren Kind: 9,4 Prozent der Familien mit zwei, 18,9 Prozent mit drei und 37,9 Prozent der Familien mit vier oder mehr Kindern wurden von der Statistik als arm geführt.[ 89 ] Mithin hatte die Armut auch in Polen einen Namen: Es war die kinderreiche Familie, womit sich hier im Rekordtempo eine Entwicklung einstellte, die im Kern bereits aus den westlichen Industriestaaten bekannt war.
Tatsächlich war in den westlichen Gesellschaften schon längst die Erfahrung gemacht und diskutiert worden, daß Ehe und Familiengründung die Markt- und Erwerbschancen vor allem der Frauen, zunehmend aber auch der Männer reduzierten. Diese Erfahrung erreichte jetzt mit Macht auch die Menschen in Ostmitteleuropa. In der Folge entfaltete sich eine im Westen bereits bekannte Tendenz zur Entinstitutionalisierung der Ehe. Frauen heirateten deutlich später, und ein immer größerer Prozentsatz verzichtete ganz auf die Eheschließung. Beide Werte näherten sich rasch dem Durchschnitt der Europäischen Union an. Gleiches galt für die Ehescheidungen. Im ungefähren Gleichschritt mit dem Westen stieg deren Zahl kontinuierlich an. In der Tschechischen Republik und in Ungarn wurden im Jahre 2004 mehr als 40 Prozent der Ehen geschieden, im katholischen Polen waren es immerhin auch schon 23 Prozent (EU-Durchschnitt: 37 Prozent).[ 90 ]
Zur gleichen Zeit wuchs in allen europäischen Ländern die Quote der außerehelichen Geburten. 2007 betrug sie in Ungarn und Tschechien mehr als ein Drittel, und selbst in Polen wurde jedes fünfte Kind außerhalb der Ehe geboren. Keineswegs verlief die entscheidende Grenzlinie in dieser Hinsicht zwischen Ost und West; die wichtigsten Unterschiede bestanden vielmehr zwischen den stärker säkularisierten Gesellschaften des Nordens und Nordwestens einerseits und den katholisch
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