Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
kontinuierlich zurück.[ 95 ] In Ost(mittel)europa, wo bis 1989noch der Schein der kommunistischen Planwirtschaft die Realitäten verdeckte, kam nach dem politischen Umbruch der Schock der Entindustrialisierung. Er traf die Bevölkerung um so schmerzhafter, als mit ihm auf einen Schlag ebenfalls Millionen industrieller Arbeitsplätze entfielen.
Für die Angehörigen der älteren Generationen, die biographisch keine Möglichkeit mehr besaßen, ihr Leben den neuen Gegebenheiten anzupassen, bedeutete dies allzu häufig langfristige Arbeitslosigkeit oder zumindest eine erhebliche Beschädigung ihrer Erwerbsbiographie. Insofern verbirgt sich hinter dem deutlichen Rückgang der männlichen Beschäftigtenquote – die in Polen phasenweise unter 60 Prozent sank – auch die generationenspezifische Erfahrung derer, für die die Marktwirtschaft mit ihrem sich rasch wandelnden Arbeitsmarkt keine neuen Chancen bereithielt. Erst etwa seit dem Jahre 2000 stieg auch die Beschäftigtenquote der älteren Männer allmählich wieder an – jetzt allerdings meist aus dem ökonomischen Druck heraus, den zunehmend prekäre Einkommenslagen ausübten.
Konsum und Massenkultur
Mithin spannte sich über den europäischen Kontinent eine Fülle sozialer Ungleichheiten, die sich im Falle problematischer individueller Familien-, Generations- und Beschäftigungsverhältnisse noch zusätzlich verstärkten.[ 96 ] Im Kern war dies freilich nichts Neues; aber stellte sich nicht die Frage immer wieder neu, wie die europäischen Gesellschaften mit sozialer Ungleichheit umgingen, sie aushielten und gegebenenfalls auch kompensierten? Westeuropa verfügte in dieser Hinsicht über einen beträchtlichen Erfahrungsschatz. Schon unmittelbar nach 1945 gehörte es hier zu den stabilisierenden Mechanismen, daß soziale Ungleichheit weitaus leichter als zuvor politisch-gesellschaftlich akzeptiert wurde. Aus dieser Akzeptanz erwuchs ganz wesentlich die Immunität des Westens gegenüber dem utopischen Gleichheitsversprechen des Kommunismus. Und sie beruhte auf drei Grundpfeilern, die sich wechselseitig bedingten.
Erstens profitierten alle westlichen Gesellschaften in der Phase des Nachkriegsbooms von dem bekannten «Fahrstuhleffekt», der den Lebensstandard aller Schichten deutlich erhöhte. Zweitens erlaubte das Wirtschaftswachstum der 1950er und 1960er Jahre eine beispiellose Expansion des westeuropäischen Sozialstaats, der die soziale Sicherheit der Bedürftigen signifikant erhöhte. Drittens schließlich erfolgte zur gleichen Zeit eine ebenso dynamische wie tiefgreifende Demokratisierung des Konsums. Die damit verbundene kulturelle Uniformierung nahm den traditionellen Klassengegensätzen mehr und mehr ihre materielle Schärfe. Ohne daß sich die realen Einkommens- und Vermögensrelationen verschoben hätten, erfolgtedoch eine kulturelle «Nivellierung». Zugleich etablierte sich der Konsum als legitime, ja notwendige individuelle Lebensäußerung. Nach einer langen Periode der kontinentaleuropäischen Verbraucherkritik, die den Konsum stets negativer betrachtet hatte, als dies in den USA der Fall war, setzte sich so ein neues Bild vom Konsumenten durch.
Bis zum Umbruch im Jahre 1989/90 hatten überdies Computertechnik und Neue Medien, aber auch andere Einflüsse bestehende Konsumgewohnheiten entgrenzt, neue Bedürfnisse sowie neue Formen des Freizeitverhaltens und des Massenkonsums hervorgebracht. So ermöglichte etwa das
Computer Aided Design
(CAD) eine wirtschaftsgeschichtlich beispiellose Gleichzeitigkeit von massenindustrieller Fertigung einerseits und individueller Produktgestaltung andererseits. Der schon länger anhaltende gesellschaftliche Trend zur Individualisierung wurde nun noch einmal durch die Logik der Konsumkultur vorangetrieben, und das Warenangebot richtete sich zunehmend auf den «modernen», das heißt den individualisierten Konsumenten aus. Auch die Werbung blickte auf die gewandelten sozialen und demographischen Strukturen und wandte sich verstärkt an gutverdienende Singles, berufstätige Frauen und medienorientierte Jugendliche. Mithin boten Warenangebot und Werbung den westlichen Gesellschaften eine präzedenzlos gesteigerte Alltags- und Freizeitästhetik dar, die es dem Konsumenten erlaubte, seinen eigenen
Lifestyle
und sich damit selbst als Individuum zu konstruieren. Tatsächlich brachte der moderne Konsum in besonderer Weise die Möglichkeit individueller Distinktion hervor, ja er wurde zum «Medium der Individualisierung»,
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