Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
mittels dessen sich personale oder auch regionale «Identität» entfalten ließ.[ 97 ]
Fortbestehende soziale Ungleichheit bei gleichzeitiger massenkultureller Nivellierung und demokratischer Legitimation: dies waren drei entscheidende Elemente, die das westliche Gesellschaftsmodell nach 1945 prägten und langfristig stabilisierten. Der Konsum spielte hierbei als gleichsam kultureller Kitt, der soziale Unterschiede und Gegensätze überdeckte, die zentrale Rolle.
Es ist schwer zu sagen, was auf die Bevölkerungen der osteuropäischen Staaten größere Anziehungskraft ausübte: die politische Freiheit oder der konsumstarke Wohlstand des Westens. Überdies ist es wenig sinnvoll bei der Analyse des Niedergangs der kommunistischen Regime das Politische und das Ökonomische gegeneinander auszuspielen. Unzweifelhaft ist aber, daß im Spätkommunismus die Konsumsehnsüchte zunahmen. Von Erich Honeckers Vision einer «sozialistischen Konsumgesellschaft» bis zum ungarischen «Gulaschkommunismus» unter János Kádár suchten auch die ostmitteleuropäischen Diktaturen Legitimität mittels Konsum herzustellen.Daß sie trotz entsprechender Propagandabemühungen ihr Ziel langfristig verfehlten, liegt indes offen zu Tage. Allzu weit lagen konsumpolitischer Anspruch und karge Realität auseinander. Die Verheißungen des Regimes von einer besseren Zukunft prallten auf notorisch enttäuschte Konsumerwartungen. Und spätestens seit Ende der 1970er Jahre zerstob endgültig die Hoffnung, die sozialistische Zentralwirtschaft könnte eines Tages den Kapitalismus in Sachen Produktivität und Lebensstandard überholen. Realökonomisch entfaltete sich die moderne Konsumgesellschaft allein im Westen; deren Schaufenster ragten allerdings tief nach Osteuropa hinein. Und die Aussicht auf politische Freiheit und auf Steigerung des persönlichen Konsums trug maßgeblich dazu bei, daß der Zusammenbruch der kommunistischen Regime in überwiegend friedlichen Bahnen verlief.
Um so größer war der Nachholbedarf der postkommunistischen Gesellschaften. Nur die über Jahrzehnte hinweg zurückgestaute Entfaltung einer modernen, «amerikanischen» Konsumkultur kann erklären, warum die Eröffnung der McDonald’s-Filialen in Moskau (1990) und Warschau (1991) geradezu zu Wendepunkten der Gegenwartsgeschichte stilisiert wurde.
In den ersten Jahren nach dem Umbruch blieben die Konsummöglichkeiten für die breitere Bevölkerung mangels Kaufkraft noch sehr begrenzt. Der Schritt vom «suchenden Konsumenten», der in der Mangelwirtschaft des Sozialismus die klassische Marktfigur gewesen war, zum «wählenden Konsumenten», der sich auf dem freien Markt kaufkräftig und souverän bewegte, gelang anfangs nur sehr wenigen.[ 98 ] Noch über die ganzen 1990er Jahre hinweg blieben einfache Formen der Vermarktung bestehen wie etwa die großen Freiluftmärkte im litauischen Vilnius.[ 99 ] Zu Beginn des neuen Jahrtausends aber begannen die Bewohner der Transformationsländer in fast allen Kernbereichen des Konsums aufzuholen: Autos und Küchengeräte, Markenkleidung und Mobiltelefone strömten auf einen aufnahmebereiten Markt. Zwar stieß er nach wie vor dort an seine Grenzen, wo die Kaufkraft den Wünschen hinterherhinkte. Doch halfen hier Konsumentenkredite, die sich ebenfalls rasch ausbreiteten. So wurden zum Beispiel in Polen im Jahre 1993 nur 8 Prozent der Autos mit Krediten finanziert, 1996 war es schon weit über die Hälfte.[ 100 ] Wie in den westlichen Gesellschaften auch, wurde der Konsum zu einem Faktor und zum Symbol des gesellschaftlichen Aufstiegs. Die Parole «Ich kaufe, also bin ich» signalisierte Zugehörigkeit zu den «Konsumklassen», die innerhalb des sich explosiv verbreiternden Angebots neue Formen der Individualität konstruierten.[ 101 ] Das galt auch, wenn beklagt wurde, daß es dem osteuropäischenKonsumenten an Möglichkeiten mangele, sich adäquat zu informieren und jenseits der suggestiven Werbung eine rationale Kaufwahl zu treffen.[ 102 ]
Zumindest vordergründig glichen sich also die Konsumgewohnheiten in Osteuropa relativ rasch den westeuropäischen Gesellschaften an. Bereits zu Beginn des 21. Jahrhunderts ließen sich trotz fortbestehenden Wohlstandsgefälles im Hinblick auf Automobilisierung und die Nutzung der neuen Kommunikationstechnologien deutliche Konvergenzen feststellen.
PKW, Telefone und PCs pro 1000 Haushalte in ausgewählten europäischen Ländern 2003
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