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Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Titel: Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Wirsching
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doppelte Staatsbürgerschaft. Seine Frau ist Slowakin, ihre Kinder werden zweisprachig erzogen. Nach dem Studium der Politikwissenschaften in Paris interessierte er sich mit 26 Jahren für den sich entwickelnden ostmitteleuropäischen Markt. Bewerbungen bei verschiedenen Firmen verliefen im Sande, so daß er zusammen mit einem Partner in der Slowakei die Billigfluglinie SkyEurope gründete. Christian erhob die steigende Mobilität der europäischen Arbeitnehmer zum Geschäftsmodell. Er begeisterte sich für den offenen Luftraum im zusammenwachsenden Europa und sah seine Geschäftstätigkeit in direktem Zusammenhang mit der europäischen Integration. Seine Fluglinie helfe, so erklärte er, die Mobilität der Arbeitnehmer zu steigern. Um diese Mobilität zu fördern, müsse man den Arbeitnehmern die Möglichkeit geben, «bequem zu reisen. Zugleich müssen die mobilen Arbeitnehmer leicht und kostengünstig zu sich nach Hause zurückkehren können, um ihre Familie zu besuchen.» Für Christian war die europäische Gesellschaft dabei, sich in eine mobile Gesellschaft zu verwandeln, ja sich zu «nomadisieren». «SkyEurope ist bereits ein Teil der Lösung, denn es verkürzt die Entfernungen.»[ 119 ] 2007 besaß das Unternehmen 16 Flugzeuge und transportierte 3,6 Millionen Passagiere im Jahr. Im September 2009 allerdings hatte SkyEurope 176,6 Millionen Euro Schulden und ging bankrott. Der Flugbetrieb wurde eingestellt. Christian freilich hatte sich zuvor aus der Geschäftsführung zurückgezogen und seine Anteile rechtzeitig an einen Hedgefonds verkauft. Ihm gibt er nun die Schuld am Zusammenbruch des Unternehmens, dem er sich emotional nach wie vor verbunden weiß.[ 120 ]
    Diese Beispiele, die sich leicht fortführen ließen, vermitteln kein repräsentatives, aber doch ein farbiges Bild. Sie zeugen von den neuen Möglichkeiten transnationaler Mobilität, die das zusammenwachsende Europa hervorbrachte. Zugleich unterstreichen sie die Tendenz zur Angleichung der Lebensverhältnisse. Die
mental maps
der jungen, transnational mobilen Europäer, die regelmäßig auch durch den Gebrauch des Englischen als
lingua franca
geprägt wurden, waren überwiegend berufs- und erwerbsorientiert. In gleichsam paradoxer Wendung zur gesteigerten Mobilität unterlag ihr Erfahrungsraum doch einer Tendenz zur Uniformierung. Überwiegend folgte er den Gesetzmäßigkeiten der Informationstechnologie und der unternehmensnahen Dienstleistungen: Geschäftsbereiche, die sich mehr denn je europäisch-international strukturierten. Insofern trugen die transnational mobilen Europäer in ihrem jeweiligen Tätigkeitsbereich selbst zu den Basisprozessen des beginnenden Jahrhunderts bei: zu Europäisierung und Globalisierung.
    Neben die Mobilität der Eliten traten die Wanderungen der Massen. Zwar ist Migration für sich genommen nichts Neues. In allen ihren Epochen läßt sich die Geschichte Europas stets auch als die eines Kontinents «in Bewegung» lesen.[ 121 ] Menschen wanderten innerhalb Europas; andere verließen den Kontinent, um in Amerika oder in anderen Teilen der Welt ihr Glück zu suchen. Bis tief in das 20. Jahrhundert hinein charakterisierte dieses Muster die europäischen Bevölkerungsbewegungen. Mit dem Zweiten Weltkrieg veränderte sich das Migrationsgeschehen jedoch nachhaltig. Zum einen verursachte die Entfesselung der Gewalt millionenfache Zwangsmigration in Form von Deportationen, Zwangsarbeit und Vertreibung. Zum anderen folgte in den Jahrzehnten des Booms bis 1973 eine Welle der Arbeitsmigration, die durch gezielte Anwerbung der prosperierenden westlichen Industriestaaten gefördert wurde.
    Dynamisch spitzte sich das Migrationsgeschehen dadurch zu, daß Europa seit den 1960er Jahren – in Großbritannien noch früher – erstmals in der neueren Geschichte auch zu einem bevorzugten Zielgebiet außereuropäischer Zuwanderer wurde. Die Globalisierung, die die Welt zusammenrücken ließ, schleuste zunehmend Nicht-Europäer in den alten Kontinent hinein. Eine beispiellose Mobilisierung innerhalb Europas verband sich mit nachhaltiger außereuropäischer Zuwanderung. Beides zusammen verflüssigte die Grenzen und verstärkte die binneneuropäischen Wanderungen. Bis 1989/90 hatten diese neuartigen Trends mehr oder weniger ausschließlich Westeuropa betroffen; nach dem Lüften des Eisernen Vorhangs schrieben jedoch die Spezifika der europäischen Migration ein wichtiges Unterkapitel in der Geschichte des zusammenwachsenden Kontinents. Bis zum

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