Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Titel: Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Wirsching
Vom Netzwerk:
Marlboro, Coca-Cola oder Langnese: Stets suggerierte die Werbung den – häufig amerikanischen oder karibischen – Traum von Abenteuer und Freiheit, Natur und Erotik, kurz: vom vollendeten Glück.
    Solche Gesetzmäßigkeiten der Massenkultur entfalteten sich seit den 1970er Jahren, und auch östlich des «eisernen Vorhangs» gab es schon vor 1989 entsprechende, freilich sozialistisch umgeprägte Ansätze.[ 106 ] Seit den 1990er Jahren indes ebnete die neu aufsteigende Welle massen- und medienkultureller Uniformierung die bestehenden Unterschiede weiter ein und erfaßte nunmehr ganz Europa. Zugleich eröffnete der Durchbruch zu einer auf Überfluß und Uniformierung zugleich beruhenden Massenkultur dem Individuum neue Möglichkeiten zur Identitätsbildung und zwar jenseits der traditionellen Bindungen durch Herkunft und Familie, Schicht und Klasse, Konfession und Bildungsniveau. In der modernen Massenkultur und Konsumgesellschaft, in der die internationalen Marken ihre Vorherrschaft durch beständige Werbungskommunikation sicherten, begründete die aktive und individuelle (Kauf-)Wahl des «Kunden-Bürgers» die Welt der «feinen Unterschiede».[ 107 ] Etwas Neues konnte erstmals in ganz Europa entstehen: nämlich ein dialektisches Gleichgewicht zwischen kultureller Uniformierung einerseits und individueller Distinktion andererseits auf dem Markt der Freizeit, der Medien und des Konsums.
    Mithin transportierte und entfaltete die Massenkultur die egalisierenden und globalisierenden Tendenzen der Moderne. Zumindest scheinbar erlaubte der von ihr geformte Markt eine freie individuelle Entscheidung. Diese Entscheidung entkoppelte sich von traditionellen Bindungen und trug daher in den Augen vieler Kritiker zunehmend permissive, hedonistische, ja narzißtische Züge. Gerade die Jüngeren erwiesen sich als immer weniger abhängig von früheren Gebräuchen und Sitten. Vielmehr wurden sie selbst höchst aktiv in der Stilisierung und Inszenierung ihrer selbst. Schien sich also nicht geradezu eine «Ichkunst» durchzusetzen, freilich unter Inkaufnahme neuer Abhängigkeiten oder sogar Süchten von und nach den glitzernden Produkten der neuen Massen- und Medienkultur?
    In Westeuropa war diese Kritik größtenteils bereits in den 1980er Jahrenformuliert und gewissermaßen ausdiskutiert worden. Und bis zum Ende des Jahrhunderts hatte sich die kulturpessimistisch unterlegte Sorge um die in der Massenkultur gefährdete moralische Autonomie des Menschen weitgehend verflüchtigt. Auch ein nennenswerter kultureller Antiamerikanismus war kaum mehr hörbar. Dagegen dominierten seit den 1990er Jahren der erzieherische Impuls und das Ringen mit den Folgen der massenkulturellen Individualisierung. Gerade jungen Menschen galt es, «Medienkompetenz» und andere Schlüsselkompetenzen beizubringen, um sie für ihre Akteursrolle auf dem kulturellen Massenmarkt zu befähigen. Offenkundig bestanden hierbei Parallelen zur europäischen Bildungsstrategie mit ihren Leitmotiven der Flexibilität und
employablity:
Das Leitbild war jeweils das gleiche, nämlich das sich seiner Interessen bewußte und sich quasi-souverän auf dem Markt bewegende Individuum.
    In den postkommunistischen Gesellschaften regten sich dagegen anfangs noch stärkere kulturkritische Impulse, die zum Teil mit einer eindeutig antiamerikanischen Skepsis korrespondierten. Selbst in Polen, wo zumindest während der 1990er Jahre gegenüber den USA eine insgesamt sehr positive Stimmung vorherrschte, mangelte es nicht an kritischen Stimmen. Von der Überwältigung durch die westlich-amerikanisch geprägte Massen- und Konsumkultur befürchtete man Schaden für die polnische Identität. «Das Nachäffen des Westens», so klagte der polnische Philosoph, nachmalige Erziehungsminister und Europaparlamentarier Ryszard Legutko, «findet auf die oberflächlichste und primitivste Weise statt. Sie zeigt keinerlei Anzeichen eines tiefen Kultur- und Sittenaustausches, sondern nur diejenigen einer Massenverdummung.»[ 108 ] Ängste vor der durchgreifenden Kommodifizierung aller Lebensbereiche, einer «Hotdog-Kultur» und «Versupermarktung» Polens konkurrierten mit jenen Gegenstimmen, die Polens Provinzialität oder gar «kulturellen Feudalismus» anprangerten.[ 109 ] Nicht nur der «leninistische Sprung» über die westliche Konsumkultur hinweg blieb also den postkommunistischen Gesellschaften verwehrt. Gleichsam nachholend, mußten sie auch durch jene kulturkritischen Debatten hindurch, welche die

Weitere Kostenlose Bücher