Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
herrschten hier auch zum Teil ausgesprochen prekäre Verhältnisse. Die Situation von Migranten aus der Ukraine etwa spitzte sich in Großbritannien phasenweise derart zu, daß manche Kritiker geradezu von moderner «Sklavenarbeit» sprachen.[ 124 ] Unsichere Perspektiven, reduzierte soziale Sicherheit und die Notwendigkeit, auch ausgesprochen schlecht bezahlte Jobs übernehmen zu müssen, hinderten jedoch die migrationswilligen Menschen in Ost- und Südosteuropa nicht daran, den Weg nach Westen anzutreten. Insbesondere in den baltischen Staaten, in Weißrußland und der Ukraine sowie in Rumänien, Bulgarien und den jugoslawischen Nachfolgestaaten bestand ein negativer Wanderungssaldo fort. Illegalität, Menschenhandel und die Kriminalisierung der Migranten waren nicht selten die prekären Begleiterscheinungen dieser Bewegung.[ 125 ]
Seit der Jahrtausendwende unterlag das europäische Migrationsgeschehen einem weiteren fundamentalen Wandel. So verlor in den meisten traditionellen Zielländern wie Frankreich, Deutschland, aber auch Schweden und den Niederlanden die Einwanderung bis Ende der 1990er Jahre mehrund mehr an Dynamik. Die Zahl der Zuwanderer stabilisierte sich hier auf dem bekannten Niveau von sechs bis acht Prozent der ausländischen Wohnbevölkerung. Weder die politisch motivierten Asylanträge noch der Umfang der Arbeitsmigration stiegen in diesen Ländern nach 2000 noch signifikant an. Eine neue und bis dahin beispiellose Zuwanderungsdynamik entwickelte sich demgegenüber im Mittelmeerraum. Zum einen ließ sich hier, vor allem in Zypern, Malta und Spanien, das relativ neue Phänomen einer innereuropäischen «Ruhestandsmigration» beobachten. Zum anderen aber und weitaus bedeutsamer explodierte die Einwanderung von Arbeitsmigranten und Flüchtlingen nach Italien und Spanien, und das mit dramatischen Auswirkungen.
Zwischen Spanien, das bis Ende der 1990er Jahre noch eine der niedrigsten Geburtenraten in der EU hatte, und Nordafrika mit seiner stark wachsenden, jungen Bevölkerung öffnete sich auf vergleichsweise engem Raum die weltweit größte «demographische Schere».[ 126 ] Das Zusammenwirken der gegenläufigen Geburtenentwicklung und das fast groteske Wohlstandsgefälle ließen seit 2000 Spanien zum Brennpunkt der außereuropäischen Einwanderung werden. Nirgendwo sonst in Europa stießen die Kräfte einer globalen, geradezu «flüssigen» Moderne mit ihren raum-zeitlich flexiblen Menschenströmen auf die lokalen Orientierungen einer traditionellen, «festen», am Nationalstaat orientierten Moderne mit solcher Wucht aufeinander wie an der Straße von Gibraltar.[ 127 ]
Verzweifelte Migranten, vor allem aus Afrika, zum Teil aber auch aus Lateinamerika, Illegalität und gewerbsmäßiger Menschenhandel durch Schlepperbanden, schließlich auch eine eher skeptische Haltung der spanischen Öffentlichkeit gegenüber den Zuwanderern bescherten der iberischen Halbinsel alle Ingredienzien für eine migrationspolitische Dauerdebatte. Im Jahre 1990 lebten in Spanien rund 279.000 Ausländer, das entsprach einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von 0,7 Prozent. Rund zwei Drittel von ihnen kamen aus Portugal, Frankreich, Italien, Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland.[ 128 ] Zehn Jahre später waren es mit mehr als 900.000 bereits 2,3 Prozent der Gesamtbevölkerung. Bis zum Jahre 2008 schnellte die Ziffer auf mehr als 5,2 Millionen Ausländer hoch, was einer Quote von 11,6 Prozent entsprach. Von ihnen stammten rund 3,2 Millionen aus Ländern außerhalb der Europäischen Union. Vergleichbares vollzog sich binnen kurzem in Italien, wo der Einwanderungsdruck aus Afrika ebenfalls drastisch zunahm. In beiden Ländern bildeten Marokkaner und andere Nordafrikaner seit Ende der 1990er Jahre die größte Einwanderergruppe. In Spanien lebten 2008 mehr als 900.000 Afrikaner, in Italien waren es annähernd 800.000.[ 129 ] Den geradezu dramatischenWandel von Staaten, die ja einst als klassische Auswanderungsregion galten, zu einer Zone forcierter Einwanderung verdeutlicht die folgende Aufstellung.
Ausländische Wohnbevölkerung in Spanien und Italien 1990–2008 (in Tausend)
Spanien
Italien
1990
398
490
1991
408
781
1992
361
878
1993
393
933
1994
430
629
1995
461
685
1996
500
738
1997
539
885
1998
637
992
1999
749
1116
2000
924
1271
2001
1371
1465
2002
1978
1335
2003
2664
1549
2004
2772
1990
2005
3371
2402
2006
4003
2671
2007
4604
2939
2008
5262
3433
Quelle: Eurostat
Eine spezifische und zugleich neuartige
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