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Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Titel: Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Wirsching
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westeuropäischen Nachbarn schon in den 1980er Jahren ad acta gelegt hatten. Zumindest galt dies für die Intellektuellen, denen die Frage komplizierter erschien als jener Litauerin, die angesichts der Kontroverse um einen neuen Supermarkt in Vilnius ohne Zögern meinte: «Geh hin und kauf ein, wenn du Lust hast, ich sehe da keine Probleme.»[ 110 ]
    Solche Aussagen weisen auf den wohl stärksten Motor der europäischen Angleichung hin: Er besteht in der gleichzeitigen Wahl zunehmend gleichförmiger Alltagsaktivitäten. Nachdem die «großen» politischen Entscheidungenfür Demokratie und Marktwirtschaft gefallen waren, machten die Europäer tagtäglichen und millionenfachen Gebrauch von der ihnen gewährten individuellen Wahlfreiheit: Sie konsumierten und verreisten; sie nutzten die neuen Kommunikationstechniken und unterstützten Fußballvereine, sie sahen Filme und Fernsehprogramme an und hörten Popmusik. Mehr und mehr wurde so der neu strukturierte europäische Raum durch die sich wiederholenden Transaktionen und Aktivitäten «von unten» gefüllt. Die zumindest scheinbare Gleichförmigkeit erleichterte auch die Mobilität der Massen.
Elitenmobilität und Massenmigration
    Zwischen der präzedenzlosen Steigerung des Konsums, der durch die Ausweitung globaler Märkte zusätzlich angetrieben wurde, und der Schrumpfung des Raums im Zeitalter der Globalisierung bestand ein innerer Zusammenhang. Konsum und die Überschreitung von Grenzen bedingten einander. Mit einer Terminologie Zygmunt Baumans läßt sich von einer zunehmenden Verflüssigung moderner Gesellschaften sprechen. Sie sind am Konsum orientiert und netzwerkartig und transnational aufgebaut.[ 111 ] Innerhalb der Europäischen Union erhielt diese Verflüssigung durch das sogenannte Schengener Abkommen einen entscheidenden Schub. 1995 in Kraft gesetzt, schaffte es die Personenkontrollen an den Grenzen der teilnehmenden Staaten ab und verlagerte sie an die Außengrenzen. Bis 2008 erhöhte sich die Teilnehmerzahl am Schengener Abkommen auf 25 Staaten, was innerhalb des größten Teils Europas einen völlig freien Personenverkehr ermöglichte. Die Gebäude der Zoll- und Polizeibehörden an den Grenzen leerten sich, und bald erinnerten den Reisenden nur noch Hinweisschilder daran, daß er das Territorium eines anderen Staates betrat. Auch im Flugverkehr wurden Bürger der Schengen-Staaten bevorzugt behandelt und konnten nun ohne staatliche Kontrollen das volle Privileg binneneuropäischer Freizügigkeit genießen.[ 112 ]
    In der Masse und auf der Basis eines immer dichter geknüpften Flugverkehrsnetzes kam diese Entwicklung in erster Linie dem Tourismus zugute. Schon vor 1990 hatte die Expansion des Massentourismus auch den Angehörigen weniger wohlhabender Schichten zum Teil erstmals eine «transnationale» europäische Erfahrung ermöglicht. «Die britische Gesellschaft», so vermerkte ein Beobachter im Jahre 1991, «ist weitaus internationaler geworden. 1989 reisten die britischen Bürger acht Mal so häufig ins Ausland als 1969, wobei sich der Tourismus über Europa hinaus in die USA, nach Afrika und den Indischen Ozean ausweitet.»[ 113 ] Was also in Westeuropa schon in den 1970er Jahren begonnen hatte, setzte sich nach1990 dynamisch fort. Im Jahre 2005 reisten fast 200 Millionen Europäer aus den EU-25-Staaten ins Ausland.[ 114 ]
    Im Kern aber entwickelte sich die neue europäische Mobilität zu einer Mobilität der Eliten. Dies galt bereits für die Studenten, die seit 1987 auf Mobilitätsprogramme der Europäischen Union wie das Erasmus-Programm zurückgreifen konnten. Ein wachsender Anteil von ihnen verbrachte Teile des Studiums im europäischen Ausland oder auch in den USA. Auslandserfahrene Studenten sicherten sich Vorteile auf dem Arbeitsmarkt, und für die Top-Angebote in Wirtschaft und Wissenschaft stellte die biographisch erworbene «interkulturelle Kompetenz» ohnehin ein entscheidendes Kriterium dar.
    Tatsächlich wurden Auslandserfahrung und interkulturelle Kompetenz zu bedeutsamen Insignien, welche die Zugehörigkeit zur jeweiligen Elite signalisierten. Umgekehrt nutzten Europas Bildungs-, Funktions- und Wirtschaftseliten die vielfältigen Mobilitätsangebote, um sich den europäischen Raum zu erschließen und ihn damit zu ihrem Erfahrungs- und Handlungsraum zu machen. Beginnend mit dem Studium, setzten nicht selten die ersten Auslandsaufenthalte, Sprachkenntnisse und landeskundliche Interessen ganze Mobilitätskarrieren in Gang. Ein neuer

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