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Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Titel: Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Wirsching
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Gleichzeitigkeit erzeugte dieses beispiellose, häufig durch Verzweiflung, Illegalität und Fremdenfeindlichkeit grundierte Migrationsbild der westlichen Mittelmeerregion. Sie ergab sich aus fortbestehender nationalstaatlicher Grenzkontrolle, einer zunehmenden Abschottung der Europäischen Union nach außen und der anschwellenden Kraft «flüssiger» Ströme infolge der Globalisierung.
Neue kulturelle Vielfalt
    Die kulturellen Folgen solcher Gleichzeitigkeit ließen sich seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, erst recht dann seit 1990 fast überall in Europa beobachten. Sie bestanden in einer neuen Form kultureller Diversität, die sich besonders nachdrücklich in religiöser Hinsicht darstellte. Denn wie nie zuvor wurde nun die muslimische Einwanderung ein europäisches Thema.[ 130 ] Zu vielen Hunderttausenden und mehr kamen Indonesier und Surinamer in die Niederlande, Pakistani nach Großbritannien, Türken nach Deutschland, Nordafrikaner nach Frankreich, Italien und Spanien. Sie alle verband wenig außer der Tatsache, daß sie dem Islam angehörten. Und in fast allen Metropolen West- und Südeuropas begannen sie, das Straßenbild zu prägen. So traf man um 2000 Straßenverkäufer aus dem Senegal an der italienischen Riviera (Rimini und Ravenna), weibliche Haushaltshilfen von den Kapverdischen Inseln in Portugal und in Rom, chinesische Migranten in Frankreich und Großbritannien, Araber in Skandinavien und Eritreer in Deutschland.[ 131 ] Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
    Tatsächlich entfaltete sich in Europa bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts ein Ausmaß an kultureller Diversität, wie es zumindest seit der Zwischenkriegszeit nicht wieder gesehen worden war. Die Reaktionen hierauf waren widersprüchlich. Einerseits zeigte sich Europa im Zuge der Globalisierung wahrscheinlich offener und toleranter als je zuvor. Jedenfalls ließen Anfang der 1990er Jahre Analysen des «Eurobarometer» den Schluß zu, daß die Europäer bereit waren, ein beträchtliches Ausmaß an kultureller Diversität zu tolerieren.[ 132 ] Andererseits aber rüttelte die außereuropäische Einwanderung an zentralen und fest gefügten älteren Elementen europäischer Identität. Erstens waren dies Europas geistesgeschichtliche Wurzeln im Christentum und im humanistisch-aufklärerischen Individualismus. Zweitens ist Identität in Europa fast immer regional und damit territorial verankert; drittens sind wesentliche Erfahrungsräume der Europäer national bzw. nationalstaatlich geprägt. Schon für sich genommen trägt jedes dieser Elemente die häufig zitierte «Vielfalt» Europas in sich. So begegnet das Christentum in mehreren Konfessionen. Überdies steht es mit der humanistisch-aufklärerischen Tradition in einem dialektischen Spannungs- und Wechselverhältnis, das eine Fülle ganz unterschiedlicher, ja konträrer Optionen zuläßt. Territorialität verweist auf regional strukturierte sprachliche und andere kulturelle Besonderheiten. Schließlich gehören die Vielfalt der Nationen und ein entsprechendes «System» von Nationalstaaten zum Kernbestand der neueren europäischen Geschichte. Europäische Identität ist also als eine per se plural verfaßte Identität zu begreifen.Obgleich sie also in sich selbst bereits ein hohes Maß an kultureller Diversität begründet, ist sie doch zugleich, entlang der genannten Kategorien, nach außen abgrenzbar. Wenn es stimmt, daß die Globalisierung, der Trend zur transnationalen Mobilität und die Beschleunigung der Kommunikation zugleich das Bedürfnis der Menschen verstärkte, sich zu unterscheiden, eine eigene, abgrenzbare Identität zu bewahren bzw. neu zu konstruieren, dann sollten die genannten drei Elemente seit den 1980er Jahren an Bedeutung gewonnen haben.
    (1) Solange sich Zuwanderungen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zum ganz überwiegenden Teil innerhalb der europäischen Grenzen vollzogen, es sich also primär um eine binneneuropäische Wanderung handelte, bekannte sich auch die große Mehrheit der europäischen Migranten zum Christentum. Die gemeinsame christliche Tradition der europäischen «Identität» wurde durch sie nicht in Frage gestellt.[ 133 ] Seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts avancierte dagegen die «Neue Islamische Präsenz» zum Thema. Transnationalität umfaßte im neuen Europa daher auch und gerade die außereuropäisch-islamischen Räume. Die fortschreitende Globalisierung läutete eine neue Epoche in den Beziehungen zwischen Europa und der

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