Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
Kopftuchaffäre lehrte, die sich 2010 mit der Diskussion um ein Verbot der Burka fortsetzte, tat sich selbst eine politische Kultur, deren Identität sich maßgeblich aus dem Prinzip der Laizität speiste, schwer, mit den neuen Herausforderungen durch die muslimische Immigration umzugehen. Aber die beständige Neuverhandlung von kultureller Identität und ihrem Status im öffentlichen Raum kennzeichnete künftig die Geschichte des neuen Europa. Auch in anderen Ländern mit muslimischer Einwanderung wurde das Kopftuch zum Streitfall, der einerseits eine scharfe Polarisierung in der öffentlichen Meinung offenbarte, andererseits zu sehr konträren gesetzgeberischen und administrativen Lösungen führte. Während in den Niederlanden ebenfalls lokale Verbote ausgesprochen wurden, blieb in Großbritannien das Kopftuch erlaubt. 2006 wurden in einigen Bezirken sogar muslimische Polizistinnen mit einem Kopftuch ausgestattet. Dies sei gegenüber den muslimischen Gemeinden eine vertrauensbildende Maßnahme, hieß es.[ 148 ] Belgien dagegen verbot 2010 als ersteseuropäisches Land das Tragen der Burka. Darin lag keine geringe Ironie, war doch Belgien auch das erste europäische Land gewesen, das es im Schatten der ersten Ölpreiskrise schon 1974 für opportun gehalten hatte, den Islam als eine der Staatsreligionen anzuerkennen.[ 149 ]
Die Beispiele zeigen das grundsätzliche Problem, vor dem Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts stand. Angesichts der islamischen Einwanderung wuchs es sich in dem Maße zu einem neuartigen Dilemma aus, in dem es an drei Kernelemente der europäischen kulturellen Identität rührte.
Erstens sah sich der langetablierte Anspruch des westlich-aufgeklärten Individualismus herausgefordert. Das universale Recht des einzelnen auf freie Selbstentfaltung mußte zwar einerseits selbstverständlich auch für die Muslime gelten; wo aber andererseits islamische Kräfte und Traditionen eben dieses Recht selbst in Frage stellten, trübte sich die Klarheit der Anschauung. Wie sollte sich das auf den westlich-individualistischen Wertehimmel verpflichtete europäische Rechtssystem gegenüber den muslimischen Gruppen verhalten, die eben jenen Wertehimmel ablehnten oder gar bekämpften? Insbesondere im Hinblick auf inkompatible Vorstellungen über das Bild und die Rolle der Frau in Familie und Gesellschaft ließ es sich daher durchaus legitimieren, im Namen des westlichen Individualismus individuelle Rechte von Muslimen zu beschneiden. Das Verbot von Tschador und Burka ist hierfür nur das symbolträchtigste Beispiel.
Zweitens aber enthielt der westlich-aufklärerische Wertekanon die ebenfalls universalen Prinzipien der Religionsfreiheit und des Minoritätenschutzes. Beides verpflichtete die Europäer aus ihrer eigenen Tradition heraus, den muslimischen Zuwanderern ohne Wenn und Aber jenen Raum zu gewähren, den sie zur kulturellen Entfaltung brauchten.
Drittens schließlich spielte die christliche Dimension der europäischen Identität eine wenngleich schwer meßbare, so doch bedeutsame Rolle. Zwar würden sicher die wenigsten Europäer bestreiten, daß religiöse Glaubensentscheidungen und kultische Handlungen letztendlich der Privatsphäre angehören, und manche mögen sich fragen, wo eigentlich in der Koexistenz von Religionen unter dem Dach des neutralen Staates das Problem liege. Aber gleichsam unter der Oberfläche eines solchen
Common-sense
-Laizismus übte die jahrhundertealte christliche Tradition der europäischen Geschichte eine große Macht und nachhaltige Wirkung aus. Jenseits des konkreten Einflusses und der Mitgliederzahlen der christlichen Amtskirchen kam dies am deutlichsten im Bereich der Symbolik zum Ausdruck. Besonders wenn die symbolische Besetzung öffentlicher Räume zur Debatte stand, keimten immer häufiger Konflikte mit christlich-islamischer Grundierung auf. Wenn die Ausübung der Religion aus der Privatsphäredes Hinterhofs in den öffentlichen Raum drängte und damit sichtbar zu werden versprach, weckte dies die Leidenschaften. Meist bildete das islamische Anliegen, Moscheen oder eigene Kulturzentren prominent zu plazieren, den Stein des Anstoßes.[ 150 ] Bisweilen regte sich konkreter Widerstand dort, wo Jahrzehnte zuvor über dieselbe Thematik kaum diskutiert worden war. Der erfolgreiche Volksentscheid für das Verbot des Baus von Minaretten, für den die Schweizer Stimmbürger am 29. November 2009 votierten, ist hierfür ein besonders aussagekräftiges Beispiel. Anderswo, wie in
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