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Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Titel: Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Wirsching
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Lodi bei Mailand im Jahre 2000, eskalierte die Spannung um den Bau einer Moschee zu einer regelrechten anti-islamischen Kampagne, die politisch von der Lega Nord unterstützt wurde.[ 151 ]
    Der Anspruch des westlich-aufklärerischen Individualismus, die mit ihm eng verwobenen Universalien der Religionsfreiheit und des Minoritätenschutzes, schließlich das unterschwellig wirksame christliche Identitätselement glichen drei sperrigen Puzzleteilen. Keines von ihnen war aus der Diskussion um Europas kulturelle Orientierung wegzudenken, aber angesichts der migrationsbedingt wachsenden kulturellen Diversität ließ sich aus ihnen auch kein Ganzes zusammensetzen. Eben dies bildet bis heute das europäische Dilemma.
Das Vordringen regionaler Identitäten
    Die Entwicklung von Migration und kultureller Diversität verweist darauf, daß Europa trotz seines langfristigen Trends zum Nationalstaat zugleich auch immer ein transnationaler Raum gewesen war. Man muß dabei nicht nur an die Vielvölkerreiche in Ost- und Südosteuropa denken. Auch eine englische Kultur wäre ohne die Beiträge von Schotten und Walisern, Franzosen und Deutschen ebensowenig vorstellbar wie eine französische Kultur ohne die Einflüsse von russischen, polnischen, aber auch deutschen, italienischen und iberischen Immigranten. Diese Beispiele ließen sich leicht fortsetzen. Jede «nationale» Kultur resultierte aus konkreten Mischformen vielfältiger Einflüsse. Insofern ist die Erkenntnis, Europa konstituiere einen transnationalen Raum, kaum mehr als eine Banalität.
    In dem Maße aber, in dem Europa seit den 1970er Jahren – zuerst im Westen, seit 1989 auch im West-Ost-Verhältnis – raumzeitlich stärker zusammenwuchs, Grenzen abgebaut, Reisen erleichtert und Kommunikationsmittel immer leistungsfähiger wurden, stieg auch das Bedürfnis der Menschen, sich zu unterscheiden. Wo sich Europa kulturell beschleunigte und Lebensstile sich anglichen, wo Mobilität und Migration zur Alltagserfahrung wurden, ging es immer auch darum, sich einen eigenen, unverwechselbaren Platz zu sichern. Dies betraf Zuwanderer, aber eben auchEinheimische. Nicht umsonst avancierte schon seit den 1980er Jahren Identität zu einem Schlüsselbegriff der Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften. Ob es um Individuen oder soziale Gruppen, Städte oder Regionen, Sprachgemeinschaften, ethnische Minderheiten oder Nationen ohne eigenen Staat ging: stets stand die Frage nach der Identität im Mittelpunkt, nach der Fixierung der Grenze zwischen dem Eigenen und dem Anderen oder auch dem «Fremden». Tatsächlich zeigt die Forschung von mehr als zwei Jahrzehnten, daß symbolische Grenzen, die Konstruktion kultureller Differenz, aber auch ethnisch und religiös begründete Konflikte im neuen Europa eine zentrale Rolle spielen. Zumindest gewannen sie in dem Maße neues Gewicht, in dem Globalisierung und liberal-egalitäre Demokratie den Kontinent mehr als je zuvor bestimmten.
    Dabei spiegelt die Entwicklung der Forschungsdiskussion ziemlich genau die grundlegenden soziokulturellen Problemlagen wider. Kategorien wie «Identität» oder «Ethnizität» wurden zunehmend als im Kern essentialistisch kritisiert.[ 152 ] Welche verheerenden Wirkungen sie auch in der europäischen Gegenwart noch ausüben konnten, hatte der Jugoslawien-Krieg demonstriert. Statt dessen hob man den Konstruktcharakter jeder «Identität» hervor. Und tatsächlich ist es eine alte Einsicht, daß distinkte soziale und kulturelle Gruppen häufig erst durch Gesetzgebung und Statistik, durch die regelmäßige Wiederholung bestimmter Zuschreibungen, schließlich auch durch Institutionen und exekutive Maßnahmen zu einer scheinbar objektiven Größe verdinglicht wurden. Dies war in den 1990er und 2000er Jahren zwar nicht anders, im Kern aber paradox. Denn ging es im Europa der Jahrtausendwende nicht viel eher darum, allen Europäern politisch-soziale und kulturelle Teilhabe – das heißt
citizenship
im umfassenden Sinne von Inklusion jenseits soziokultureller Zuschreibungen – zu sichern?
    Zwar wurde eine solche transnationale Zivilgesellschaft von vielen gewünscht und auch zur Zielperspektive der Europäischen Union erhoben; ihnen wirkten aber ganz offenkundig identitätsbezogene, partikulare Kräfte entgegen. Das unendliche Wechselspiel zwischen «objektiv» faßbaren Kategorien und «subjektiven» Wahrnehmungen, Selbstzuschreibungen und Konstruktionsprozessen von «Identität» läßt sich am Ende wohl weder

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