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Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Titel: Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Wirsching
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Viviane Reding aus, die die Diskriminierungspraktiken streng verurteilte und eine Parallele zu «faschistischen» Praktiken zog.[ 141 ]
    Das überaus harsche Vorgehen gegen die Sinti und Roma geht über den Konflikt mit einer ethnischen Gruppe, die auf ihrer eigenen Identität beharrt, hinaus. Zugespitzt läßt sie sich als Drohung begreifen, jene auszugrenzen, die aus der neuen Ordnung herausfallen. Gegenüber der als unvermeidbar deklarierten und positiv-fortschrittlich dargelegten Modernisierung der Gesellschaft werden die transnationale Existenz und die als rückständig betrachteten kulturellen Praktiken der Roma wie Bettelei, Nischenwirtschaft und das Zusammenleben in der Großfamilie gleichsam als das «Andere» konstruiert und mit dem Ausschluß bedroht.[ 142 ]
    Die Behandlung der Sinti und Roma sowie andere empirische Studien unterstreichen mithin die fortbestehende Prägekraft des Nationalstaates. Sie zeigen, daß auch Immigranten ihre Identitätsansprüche in der Sprache und Form ihres jeweiligen nationalstaatlichen Umfeldes einbringen.[ 143 ] Und solange sie keine volle staatsbürgerliche Teilhabe in diesem Umfeld besaßen, also insbesondere durch Einbürgerung, blieb ihnen der Zugang zu
citizenship
im vollen Sinne verbaut. Dies betrifft auch den Zugang zum Europäischen Gerichtshof.[ 144 ] Der Weg zu voller Teilhabe in Europa führte auch während der letzten beiden Jahrzehnte über den Nationalstaat, und es ist nicht abzusehen, daß sich dies in absehbarer Zukunft ändern wird.
    (3) Dies warf drittens die Frage auf, wie die etablierten Nationalstaaten mit transnationalen Identitäten – die überdies offensiv ihr Recht einforderten – umgingen. Diese Frage gehörte zu den umstrittensten Themen auf der europäischen Tagesordnung. Als exemplarischer Fall berühmt wurde die sogenannte
affaire des foulards
in Frankreich und ihre langfristigen Folgen. 1989 schloß der Direktor einer Mittelschule (College) in Creil in der Picardie drei muslimische Schülerinnen aus, weil sie im Unterricht ein Kopftuch trugen. Dies verstieß seiner Auffassung nach gegen das republikanisch-laizistische Prinzip der Trennung von Staat und Kirche. Die nachfolgende Diskussion in der französischen Öffentlichkeit war hitzig und feindselig, die Lösung des Erziehungsministers Lionel Jospin dagegen salomonisch: Die Schülerinnen sollten wieder eingegliedert werden. Das Tragen religiöser Symbole sei so lange unproblematisch, gleichsam neutral, wie sich die Träger nicht offensiv missionarisch betätigten. Faktisch stellte dieser Kompromiß die begrenzte Vereinbarkeit zwischen republikanischem Laizismus und dem Tragen von religiösen Symbolen in staatlichenBildungseinrichtungen her. In der Folge entfaltete sich ein labiles Gleichgewicht. Zwar stieg die Zahl von kopftuchtragenden Schülerinnen bis zum Jahre 2003 auf rund 1250 in ganz Frankreich; zugleich aber sank die Zahl der Streitigkeiten auf etwa 150 Fälle. Zu Beginn des Schuljahres 2003 ging dieses Gleichgewicht jedoch in einer Polemik unter, die sich zu einem «nationalen Psychodrama» auswuchs und in den Formen eines «rhetorischen Faustkampfes» ausgetragen wurde.[ 145 ] Traditionelle politische Gegensätze zwischen «links» und «rechts» überformten sich in überraschender Weise. Feministinnen und radikale (laizistische) Republikaner fanden sich in ihrer Gegnerschaft gegen das «Kopftuch der Republik» plötzlich an der Seite von xenophoben Kulturnationalisten. Andere radikale Republikaner betonten gemeinsam mit religiösen Muslimen die Rechte der Minorität. Im Ergebnis verbot ein Gesetz im Jahre 2004 definitiv das Tragen von Kopftüchern (ebenso wie überdimensionierte Kruzifixe) in den staatlichen Bildungseinrichtungen. Einem doktrinären Laizismus wurde damit Genüge getan, der Praxis freilich die Flexibilität entzogen. Die meisten der betroffenen muslimischen Schülerinnen beugten sich der neuen Regel, teilweise nicht ohne sich aus Protest eine Glatze schneiden zu lassen.[ 146 ] Von rund 120 Schülerinnen, die auf dem Tragen des Kopftuchs insistierten, wurden manche in belgische Schulen transferiert, die Mehrheit wohl aber gänzlich aus der Schulbildung herausgenommen. Die problematischen Folgen lagen auf der Hand: Muslimische Gemeinden gründen verstärkt religiöse Privatschulen, die zwar den Bedürfnissen religiöser Muslime eher entsprechen, sich aber vom republikanischen Standard in Frankreich weiter entfernen dürften.[ 147 ]
    Wie die französische

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