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Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Titel: Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Wirsching
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Bevölkerung ebenso wie an die zahlreichen Einwanderer, die aus anderen Regionen Spaniens in die prosperierenden katalanischen Zentren, allen voran die Hauptstadt Barcelona strömten. Tatsächlich förderte der Autonomiestatus Kataloniens durchaus mit Erfolg die regionale Zweisprachigkeit. Ohne daß es zu nennenswerten Sprachenkonflikten gekommen wäre, stiegen die aktiven wie passiven Kenntnisse des Katalanischen in der Gesamtbevölkerung der Region schon während der 1980er Jahre deutlich an.[ 159 ]
    Der katalanische Anspruch auf regionale und nationale Eigenständigkeit speiste sich denn auch kaum aus einer ethno-nationalistischen Ideologie; vielmehr glich er dem Prozeß eines beständigen kulturellen
nation-building
auf der Basis des
ius solis.
So definierte die Präambel des Statuts von 2006 Katalonien zwar als «Nation». Sie sprach von «historischen Rechten des katalanischen Volkes», akzeptierte aber zugleich die Existenz von «unterschiedlichen Identitäten»: «Katalonien entstand im Laufe der Zeit durch den Beitrag vieler Generationen verschiedenster Herkunft und Kulturen, die hier Aufnahme fanden.»[ 160 ] In diesem Sinne definierte das Statut die Katalanen rein politisch-territorial, nämlich als «alle spanischen Staatsbürger, die verwaltungsrechtlich ihren Wohnsitz in Katalonien haben».[ 161 ] Die katalanische «nationale» Identität beruhte mithin auf den primären Kriterien der Territorialität und der Residenz. Allerdings ist die Situation durch ein Urteil des spanischen Verfassungsgerichtshofs Ende Juni 2010 unübersichtlicher geworden. Das Gericht wies das Recht der Katalanen, sich als «Nation»zu bezeichnen, zurück und kassierte den entsprechenden Artikel des neuen Autonomiestatuts von 2006. Die Folge waren Massendemonstrationen in Barcelona, an denen nach Schätzungen mehr als eine Million Menschen teilnahmen und sich teilweise für die Trennung von Spanien aussprachen.[ 162 ]
    In mancher Hinsicht vergleichbar mit dem katalanischen Fall war die Entwicklung in Schottland. Schottland, seit 1707 mit England vereinigt, ist das vielleicht eindeutigste Beispiel einer europäischen Nation ohne eigenen Staat. Auch wenn die Union den Schotten viele Vorteile brachte und zu keinem Zeitpunkt grundsätzlich infrage gestellt wurde, so existierte neben der gemeinsamen «britischen» doch über das ganze 19. und 20. Jahrhundert hinweg eine eigenständige schottische nationale Identität. Anders als in Spanien definierte sich dieses Eigenbewußtsein weniger sprachlich – Gälisch wurde zu Beginn des 21. Jahrhunderts nur noch von etwa einem Prozent der Bevölkerung gesprochen – als historisch, religiös und kulturell. Überdies verfügte Schottland über ausreichende Repräsentationsorgane im britischen Verfassungsleben. Dies betraf die festgelegte Zahl der schottischen Abgeordneten im britischen Parlament sowie vor allem das 1885 eingerichtete
Scottish Office,
das als Querschnittsministerium und zugleich als oberste schottische Verwaltungsinstanz mit Sitz in Edinburgh fungierte. Schottische Interessen waren also im britischen Gesamtstaat durchaus angemessen vertreten, und so überrascht es nicht, daß der schottische Nationalismus während des 19. und 20. Jahrhunderts meist nur begrenzten Einfluß besaß. Nachhaltige Forderungen nach einer forcierten Dezentralisierung (Devolution) oder gar separatistische Ansprüche waren die Ausnahme.
    Daß sich dies seit den 1970er und 1980er Jahren änderte, läßt sich als klare Reaktion auf Tendenzen der wachsenden Internationalisierung, aber auch auf innerbritische Problemlagen begreifen. Eine erste Initiative zur Einrichtung eines schottischen Regionalparlaments scheiterte im Jahre 1979, als ein schottisches Referendum das erforderliche Quorum von 40 Prozent nicht erreichte. In den Folgejahren verstärkten sich jedoch die Wirkungen der gerade in Großbritannien stark umstrittenen Europäisierung. Hinzu trat der unverkennbare Zentralisierungsschub unter Margaret Thatcher. Wirtschaftliche, soziale und politische Motivstränge trugen gleichermaßen zur Akzentuierung schottischer Nationalität bei. Die unter Thatcher forcierte Deindustrialisierung Großbritanniens, die sie mit einem scharfen Angriff auf den britischen Wohlfahrtsstaat verband, traf die schottischen Industrieregionen besonders hart. Das soziale Anliegen in der Politik und die sich hieraus speisende zunehmende Stimmung gegen die inWestminster regierenden Tories ließ sich indes immer weniger von der

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