Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
wissenschaftlich noch politisch in einem schlüssigen Konzept auflösen. Daß dieses Wechselspiel aber eine zunehmend bedeutsame Realität des neuen Europa bildete, ist unleugbar, und dies betrifft insbesondere Fragen der territorialen Identität. In fast allen Teilen Europas wurden regionale Eigentümlichkeiten und Traditionen während der 1980er und 1990er Jahre fortgeschrieben, wiederentdeckt und neu belebt.[ 153 ] Viele europäische Staatenföderalisierten sich, während sich zugleich die Europäische Union um die «territoriale Kohäsion» der Gemeinschaft sorgte. Denn trotz aller vereinheitlichenden Tendenzen bewirkten ungleiche ökonomische Entwicklungen erhebliche Unterschiede in den materiellen Lebensumständen der Europäer.[ 154 ]
Die Ausdrucksformen territorial-regionaler Identitäten variierten. Häufig dominierte ein folkloristischer Zug, der sich in spezifisch regionalen Konsum- und Unterhaltungsangeboten äußerte. In anderen Regionen hingegen transformierte sich das regional-territorial verwurzelte Eigenbewußtsein in eine politische Bewegung. Ethnisches, sprachliches und religiöses Sonderbewußtsein verband sich hier mit dem Anspruch auf eine territorial definierte Eigenexistenz. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts reaktivierten sich in ganz Europa ältere «nationale» und regionalistische Potentiale. Indem sie häufig neue Formen der Dezentralisation und der regionalen Autonomie erstritten, erzielten sie zum Teil spektakuläre Erfolge. Schon wurde die These aufgestellt, Europa befinde sich in der Phase einer kulturellen Konfiguration, an deren Ende es mehr dem Indien des 19. Jahrhunderts als dem Frankreich der Dritten Republik ähneln werde.[ 155 ]
Ein Beispiel dafür, wie konträr sich regionale Diversität innerhalb einer nationalstaatlichen Ordnung entfalten konnte, bildete Spanien. In Reaktion auf den autoritären Zentralismus der Franco-Zeit, aber auch infolge der zunehmenden innerspanischen Süd-Nord-Wanderung[ 156 ] spielte der moderne Regionalismus auf der iberischen Halbinsel eine besondere Rolle. In der neuen Verfassung von 1978 kam denn auch der Dezentralisierung eine entscheidende Bedeutung zu, und der Übergang zur Demokratie vollzog sich wesentlich durch die Bildung und institutionelle Stärkung der neu gebildeten «Autonomen Gemeinschaften».[ 157 ] Aber während die regionale Selbstverwaltung in den meisten Gebieten maßgeblich zur innerspanischen Pazifizierung und Versöhnung beitrug, galt das nicht in gleichem Maße für das Baskenland. Hier bedrohte der zwar minoritäre, aber terroristisch-gewalttätige Separatismus der ETA über die ganzen 1980er, 1990er und 2000er Jahre hinweg den inneren Frieden. Auch die Erweiterung des politischen Autonomiestatuts von 1979 scheiterte 2005 daran, daß die große Mehrheit im spanischen Parlament von dem Entwurf der baskischen Regionalregierung den Einstieg in die Sezession befürchtete. Dem Streben nach Unabhängigkeit entsprach dabei eine im Vergleich zu anderen Regionen weitaus stärkere, wenngleich auch heftig umstrittene Tendenz, die baskische Nation primär ethnisch zu verstehen.[ 158 ] Essentialistisch-biologische Argumente verwiesen auf die «uralte» Geschichte des baskischen Volkes mit einer eigenen, «isolierten» Sprache, deren Wurzeln nicht auf den lateinisch-romanischenKulturkreis zurückgehen. Ethno-nationalistische Zuschreibungen und modernere, kulturell begründete Identifikationsmerkmale verbanden sich also im baskischen Nationalismus.
Deutlich anders verhielt es sich demgegenüber in Katalonien. Zumindest bis in die jüngste Vergangenheit gab es hier keinen bedeutsamen Separatismus; allerdings konnte die 1977 wiederbegründete katalanische Regionalregierung, die
Generalitat,
ihre Selbstverwaltungsrechte ständig erweitern. In einem neuverhandelten Autonomiestatut, das 2006 in Kraft trat, sicherte sich die Region weitgehende Selbstverwaltungsrechte im Bereich der Kultur, der Sozial- und Gesundheitspolitik und selbst im Bereich der inneren Sicherheit.
Hierzu paßte die ausgesprochen pragmatische Sprachenpolitik, die Katalonien im Zusammenwirken mit dem spanischen Zentralstaat implementierte. Weder das Katalanische noch das Spanische (Kastilische) – beide aus vulgärlateinischen Dialekten entstanden – dürfen diskriminiert werden; beides sind gleichberechtigte Amtssprachen, und alle Bürger der Region haben das Recht, aber auch die Pflicht, beide Sprachen zu beherrschen. Diese Pflicht richtete sich an die indigene
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