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Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Titel: Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Wirsching
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islamischen Welt ein. Die Rückwirkungen der Terroranschläge vom 11. September 2001, das Vordringen des islamischen Fundamentalismus sowie die Fülle xenophober, anti-muslimischer Reaktionen haben diese Beziehungen nicht gerade erleichtert. Alle politischen und sozialwissenschaftlichen Schlagwörter – Assimilation und Akkulturation, Integration und multikulturelle Gesellschaft – sind in diesem Kontext wieder zur Geltung gekommen. Auch fehlte es nicht an alarmistischen Stimmen, die vor einer «schleichenden Islamisierung» Europas warnten.[ 134 ]
    (2) Zweitens lag es in der Natur der Immigration, daß sie die enge Koppelung von Territorialität und Staatsbürgerschaft in Frage stellte, die zu den Kernbeständen der europäischen Identität gehörte. So war die persönliche Situation nicht naturalisierter Immigranten fast immer durch einen minderen Rechtsstatus gekennzeichnet; zugleich freilich konnten sie sich auf die ansteigende Bedeutung der übernational gültigen Menschenrechte und des entsprechenden universalen Diskurses berufen. Tatsächlich kehrte sich zumindest in der Tendenz die bekannte Stufenfolge von Thomas H. Marshall um, wonach in Europa die Verleihung sozialer Rechte erst als zweiter Schritt auf die – im 19. Jahrhundert erkämpften – politischen Rechte folgte.[ 135 ] Migrantengruppen erhielten Elemente einer transnationalen
social citizenship,
bevor oder auch ohne daß sie die volle Staatsbürgerschaft ihres Gastlandes erreichten. Vor allem Migranten der zweiten Generation verknüpften demzufolge Elemente ihrer elterlichen Herkunftsgesellschaftmit denen ihrer neuen Umgebung. Auf dieser Basis konstruierten sie eine übernationale, gleichsam «dritte» Identität, die sich der modernen postnationalen und universalistischen Tendenzen bediente. Insofern wurde im Hinblick auf die Migranten sogar von einer neuen Form der «postnationalen
citizenship»
im neuen Europa gesprochen.[ 136 ]
    Einen Test hierauf bildete der Umgang der europäischen Staaten mit den Sinti und Roma, für die Emil Ščuka, der Gründer der ersten politischen Roma-Partei in der Tschechischen Republik, in Anspruch nahm: «Die Roma sind eine Nation, die nicht auf ein Territorium begrenzt ist. Es handelt sich nicht um die Frage eines Staates mit präzisen Grenzen, sondern es ist eine Nation ohne Territorium, die zugleich unsere spezifische Identität bildet.» In einem zunehmend supranationalen Europa, in dem Nationszugehörigkeit und Bürgerrecht nicht notwendigerweise koinzidieren, forderte Šcuka, daß die Roma (IUR) gewissermaßen als transterritoriale NGO agieren solle.[ 137 ]
    Zu diesem Anspruch paßte allerdings die ausgesprochen feindliche Haltung schlecht, mit der die rund sieben bis neun Millionen Sinti und Roma in vielen europäischen Ländern konfrontiert waren. Dies betrifft nicht nur die ost- und südosteuropäischen Staaten wie Rumänien, Ungarn und die Tschechische Republik, wo die meisten Angehörigen der Volksgruppe leben und wo immer wieder von Feindseligkeiten, zum Teil sogar pogromartigen Übergriffen berichtet wurde.[ 138 ] Auf feindliche Lebensbedingungen sowie harsche, gegen sie gerichtete Maßnahmen mußten sich Sinti und Roma auch in West- und Südeuropa einrichten.
    So richtete sich in Italien massives feindliches Mißtrauen gegen die Roma, als einigen von ihnen konkrete Verbrechen zugeschrieben wurden. Im Mai 2008 kam es zu einer Welle von Angriffen auf und Brandstiftungen in Roma-Siedlungen. Die Politik verhängte daraufhin den Ausnahmezustand für die Roma-Gemeinden zunächst in Kampanien, Latium und der Lombardei, ab Juli 2008 für das ganze Land. Nicht nur wurden die Lokalbehörden mit Vollmachten ausgestattet, um Razzien durchzuführen und inoffizielle Siedlungen aufzulösen. Auch die sich bildenden Bürgerwehrgruppierungen bekamen Rückendeckung. In diesem aufgeheizten, zunehmend ausländerfeindlichen Klima, in dem Ausländer, Roma und Kriminelle verbal häufig gleichgesetzt wurden, entstand eine sehr konkrete Bedrohungsgefahr.[ 139 ]
    Auch in Frankreich kam es im Verlauf des Jahres 2010 zu schweren Spannungen, die seit Sommer in einer massenhaften, von der Regierung angeordneten Ausweisung von Roma kulminierten. Dieser Vorgang, in dessen Verlauf rund 8000 Roma nach Rumänien und Bulgarien abgeschobenwurden,[ 140 ] trug dem französischen Präsidenten Sarkozy und seiner Regierung heftige internationale Vorwürfe ein. Besondere Empörung löste dabei in Frankreich die Kritik der EU-Justizkommissarin

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