Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
ließ sich argumentieren, daß die Regionen ein wichtiges «Bindeglied zwischen dem Bürger und der supranationalen Struktur der Gemeinschaft» darstellten und damit gerade auch die europäische Identität der Bürger stärkten.[ 175 ] Hiermit verbanden sich die staatlichen Eigeninteressen etwa der deutschen Bundesländer, in vorderster Linie Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen, die es auch erreichten, daß entsprechende Passagen über das «Europa der Regionen» Eingang in die Verträge von Maastricht und Amsterdam erhielten.[ 176 ] Der «Ausschuß der Regionen» wurde als ständiges Gremium der Europäischen Union eingerichtet.
Aber auch abseits der einzelstaatlichen Interessenpolitik, die natürlich ihre Begehrlichkeiten stets auf den Strukturfonds der EU richtete, fügte sich die Pflege regional-territorialer Identitäten harmonisch in die Politik der Gemeinschaft ein. Zwar erschien eine weitere politische Kompetenzverlagerung von der Unionsebene auf die Regionen, die über die Verträge von Maastricht und Amsterdam hinausging, als nicht opportun. Aber die post- und supranationale Logik des europäischen Integrationsprozesses rückte die kulturelle Dimension des Regionalen in eine Schlüsselposition. Dementsprechend betrieb die EU eine gezielte regionale Förderung und diskutierte überdies selbst unter dem Schlagwort eines «Europa der Regionen» kulturelle Identitätsbildungen unterhalb der nationalstaatlichen Ebene.[ 177 ] In «einer dynamischen Europäischen Union, reich an großer Vielfalt», so formulierte es die Kommissarin für Regionalpolitik, Danuta Hübner 2009, oblag es insbesondere den Regionen, diesen kulturellen Reichtum zu ermutigen und zu fördern.[ 178 ] Regionen wurden als besonders geeignet betrachtet, um die Union, ihre Politik und ihre Legitimität den Bürgern Europas näher zu bringen, sie gleichsam auf regionaler Ebene «anfaßbar» zu machen.[ 179 ] Transnationalität und kulturelle Diversität entwickelten sich infolge von Globalisierung, Migration und neuen Formen der regionalen Identitätsbildung zu Markenzeichen des neuen Europas. Sie entsprachen dem Mehrebenenmodell der europäischen Politik, wie es die EU und ihre Mitgliedsländer verkörpern. Zusätzlich angetrieben durch die Sorge vor wiederaufflammendenNationalitätenkonflikten in Osteuropa, entwickelte die EU daher in den 1990er Jahren einen hochdifferenzierten Kodex zum Schutze nationaler Minderheiten. Und im Jahre 2001 verabschiedete der Europäische Rat die Europäische Charta für Regional- oder Minderheitssprachen. Für die sich mächtig verstärkenden Tendenzen hin zu einer substaatlichen Identität, sei es auf der Basis eines neuen Regionalismus oder sei es infolge von Migrationsbewegungen, schuf die Europäische Union damit einen überstaatlichen und supranationalen Referenzrahmen.
10. Politische Anpassung und politischer Protest
«Krise der Demokratie» oder Formwandel des Politischen?
Die seit den 1980er Jahren übermächtige Tendenz, ethnische und sprachliche, regionale und religiöse Identitäten zu (re-)konstruieren und politisch geltend zu machen, drückte ein Doppeltes aus. Zum einen artikulierte sie ein wachsendes Mißtrauen gegenüber den demokratischen Nationalstaaten, ihren Parteien und anderen politischen Großorganisationen. Zum anderen spiegelte das Beharren auf partikularen kulturellen Identitäten das Bedürfnis nach Orientierung wider: nach eher kleinräumiger Orientierung in einer gesellschaftlichen Umwelt, die fraglos einem beschleunigten Wandel, ja der Globalisierung ausgesetzt war. Mißtrauen gegenüber den Eliten und Bedürfnis nach Orientierung waren mithin entscheidende politische Antriebskräfte der Epoche. Wie aber hingen sie im Innersten miteinander zusammen?
Aus der systemtheoretischen Vogelperspektive betrachtet, fällt die Diagnose nicht schwer, und sie ist hundertfach gestellt worden: Alle westlichen Demokratien litten an Phänomenen, Zumutungen und Dysfunktionen, die keineswegs neu waren. Es handelte sich um das aus der Geschichte sattsam bekannte Leiden an den Folgen einer sich beschleunigenden Moderne, die einherging mit gesteigerter Komplexität und vermehrter Kontingenzerfahrung. Wie hundert Jahre zuvor nimmt auch heute das moderne Individuum die Gesellschaft, in der es lebt, primär als abstrakte Gesellschaft wahr. In ihr bleiben die Mechanismen politischer Entscheidungen undurchsichtig und fremdgesteuert, deren Folgen aber werden als um so konkreter empfunden.
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