Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
und 1990er Jahre legte selbst die Grundlagen zur Globalisierung. Andererseits aber drang der Staat in eben jene gesellschaftlichen Bereiche immer weiter vor, wo sich die wachsende Individualisierungs- und Anspruchsspirale, aber auch die neue Verwundbarkeit infolge der Globalisierung niederschlugen: Die Verrechtlichung insbesondere in den Bereichen der Sozial-, Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik schritt dynamisch voran und trug zur fortschreitenden Vergesellschaftung des Politischen bei. Zusammen mit dem forcierten ökonomischen Strukturwandel und den sinkenden Wachstumsraten erhöhte dies das politische Risiko der europäischen Gesellschaften beträchtlich. Demokratische Politik hatte zwar immer komplexere Probleme zu lösen, mußte sich zugleich aber in immer spezifischeren, partikularen Politikfeldern legitimieren: Einerseits entwarfen europäische Politiker Globalisierungsstrategien, kämpften gegen die Arbeitslosigkeit und förderten die Familien; sie hatten galoppierende Staatsschulden zu bändigen und suchten nach Rezepten zur Bewältigung des Klimawandels. Andererseits mußten sie sich vor denen rechtfertigen, die – wie in Frankreich – massiv gegen die schrittweise Erhöhung des Mindestalters für den Renteneintritt von 60 auf 62 Jahre protestierten, sich – wie in Deutschland – gegen die Zuwachsbegrenzung der Arzthonorare oder – wie in Griechenland – gegen die verpflichtende Einführung von Registrierkassen zwecks Abführung der gesetzlichen Umsatzsteuer wandten.
Man muß sich dieses gewaltige Komplexitätsproblem demokratischer Politik vor Augen führen, bevor man vorschnell die «Krise der Demokratie» beklagt. Auch pauschale Schuldzuweisungen an «die» Politiker sind in den modernen Demokratien zwar wohlfeil, meist aber sachlich wenig begründet. Tiefer gehen jene Analysen, die von einer Selbstüberforderung der demokratischen Regime sprechen und vor ihrer Überfrachtung durch immer höhere Ansprüche warnen. Tatsächlich bildeten Probleme der «Unregierbarkeit» oder gar der Erosion der Demokratie seit den 1980er Jahren ein zentrales Thema der Politik- und Sozialwissenschaften. In einem nicht versiegenden Strom an Publikationen wurde eine internationale Dauerdebatte geführt, in dem sich demokratietheoretische, empirisch-analytische und normative Elemente überlagerten. Schlagworte waren dabei «Postdemokratie», «Dritter Weg» oder auch die «Transformation der Demokratie».[ 183 ] So unterschiedliche Schwerpunkte diese Ansätze auch verfolgen, so deutlich wird in ihnen doch die Multidimensionalität der Wandlungsprozesse. Voreilige normative Urteile über die Entwicklung sind daher kaum angebracht. Man sollte vielmehr nüchterner von einem Formwandel des Politischen sprechen, der seit den 1980er Jahren in den europäischen Demokratien Platz griff und dem säkularen Veränderungsdruck geschuldet war.[ 184 ] An drei Prozessen, die sich überdies wechselweise beeinflußten und verstärkten, läßt sich dieser Formwandel nachvollziehen.
Erstens war die demokratische Politik von einem wachsenden Trend zur Informalisierung gekennzeichnet. Dies meinte den relativen Bedeutungsverlust klassischer Verfassungsorgane zugunsten informeller Verfahren. Praktisch alle Regierungen suchten der gesteigerten Systemkomplexität mittels der Konsultation von Experten und durch informelle Absprachen zwischen Parteien und anderen politischen Akteuren zu begegnen. Freilich war dies nichts grundsätzlich Neues. Aus keinem politischen System ist die informelle Vorbereitung politischer Entscheidungen durch Absprachen und Aushandlungsprozesse wegzudenken. Seit den 1980er Jahren stieg allerdings die normative Kritik an diesem Prozeß deutlich an. Sie zielte auf den außerkonstitutionellen Charakter informeller Entscheidungsfindung und beklagte den damit verbundenen Verlust an Transparenz: Die demokratische Politik unterliege einer schleichenden, aber unaufhaltsamen Entparlamentarisierung. Aus dieser Sicht mangelte es den gewählten Vertretern des Volkes und damit dem Souverän selbst immer stärker am Willen und an der Fähigkeit, ihre Repräsentationsfunktion ausreichend zu erfüllen. Allzu sehr schienen die Parlamente dem Griff der Regierungsapparate ausgeliefert zu sein. Dem einzelnen Abgeordneten fehlten die technischen Mittel und überdies die Zeit, um eigenes politisches Gewicht zu entwickeln.Am Ende blieb den Parlamenten nur noch die Möglichkeit, die durch Kabinette oder informelle Beschlüsse vorab ausgehandelten
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