Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
Nordens. Bedroht von Entindustrialisierung, die noch durch Arbeitskämpfe verschärft wurden, erblickten nun auch viele Wallonen in einer Föderalisierung des Landes das adäquate Zukunftsrezept.[ 166 ]
Der Weg war damit bereitet für eine tiefgreifende Verfassungsrevision, die in drei Schritten 1980, 1987/88 und 1993 vollzogen wurde.[ 167 ] Seit 1993 definierte sich die Monarchie nun als «Föderalstaat, der sich aus den Gemeinschaften und den Regionen zusammensetzt» (Art. 1 der belgischen Verfassung). Die drei autonomen Regionen Flandern, Wallonien und Brüssel-Hauptstadt erhielten die Merkmale eigener Staatlichkeit wie Regionalregierungen, direkt gewählte Regionalparlamente und weitgehende legislative und fiskalische Kompetenzen.
Einer allgemeinen Auffassung zufolge verhinderte die forcierte Föderalisierung Belgiens die Spaltung des Landes. Tatsächlich verschafften sich Anfang der 1990er Jahre in Flandern deutlich separatistische Stimmen Gehör, wobei nicht selten auch auf das aktuelle Beispiel der Tschechoslowakeiverwiesen wurde.[ 168 ] Zwar trug die neue Verfassung maßgeblich zur Befriedung solcher separatistischen Tendenzen bei; und die nationalen und regionalistischen Konflikte fanden in der neuen föderalen Struktur ein adäquates Austragsmittel. Der Zankapfel blieb jedoch die Metropole Brüssel. Zwar liegt sie in der Region Flandern, ist aber aufgrund ihrer nationalen und europäischen Hauptstadtfunktion sowie der traditionell frankophonen Prägung des etablierten Brüsseler Bürgertums überwiegend französischsprachig geworden. Der rechtliche Status der frankophonen Belgier in und um Brüssel und vor allem das Schicksal des Wahlkreises Brüssel Halle-Vilvoorde (BHV) wurde zum Gegenstand eines Dauerstreits, der die belgische Innenpolitik zunehmend vergiftete. Im Frühjahr 2010 stürzte über diese Frage die Regierung Leterme.[ 169 ] In den anschließenden Neuwahlen am 13. Juni 2010 gewann die Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA) unter Führung Bart de Wevers landesweit die meisten Stimmen und wurde zur stärksten Partei im belgischen Föderalparlament. De Wevers hatte sich im Vorfeld für eine «evolutionäre» Trennung Flanderns von Belgien ausgesprochen. Für manche Beobachter glich das Wahlergebnis denn auch einem politischen «Tsunami», und die Zukunft Belgiens erschien erneut ungewiß.[ 170 ] Vor diesem Hintergrund gewannen auch jene Stimmen an Bedeutung, welche die Auffassung vertraten, der junge belgische Föderalismus sei ein «zentrifugaler Föderalismus», in dem das Zentrum «wehrlos» sei und der die erforderliche Kompromißfindung zwischen den Volksgruppen erschwere.[ 171 ]
Die unübersehbar mächtigen europäischen Tendenzen zu Regionalismus und subnationalstaatlicher Identität offenbarten die postnationale Möglichkeit einer «dualen Identität» bzw. «zusammengesetzten Nationalität».[ 172 ] Wie zahlreiche Umfragen bewiesen, fühlten sich viele eben durchaus als Katalanen und als Spanier, als Schotten und als Briten. Und selbst im Baskenland und in Belgien bestanden solche doppelten Loyalitäten fort. «Harte» nationale und nationalstaatliche Limits begannen sich mithin seit den 1980er Jahren in doppelter Weise – von «unten» durch den Autonomieanspruch der Regionen und «von oben» durch den Regulierungsanspruch der EU – zu verflüssigen. In einer optimistischen Betrachtungsweise befähigte dieser Mechanismus die Europäer in besonderer Weise dazu, regionale Bindungen und internationale Weitläufigkeit gleichermaßen zu pflegen und solcherart eine neue Form des «kosmopolitischen Lokalismus» zu entwickeln.[ 173 ]
Darüber hinaus ließ sich fragen, ob auf diese Art und Weise nicht auch neue, regional und national gleichsam unterfütterte europäische «Identitäten» entstehen konnten – etwa so, wie es der spanische Politiker Manuel Fraga formulierte: «Ich fühle mich gleichermaßen als Galicier, Spanier und Europäer.»[ 174 ]Die Ergebnisse kulturwissenschaftlicher Forschung über die europäische Nationsbildung und die Entstehung nationaler Identitäten im 19. Jahrhundert weisen jedenfalls in eine entsprechende Richtung. Entscheidend für die Ausbildung entsprechender Identitäten sind
«imagined communities»
(Benedict Anderson), vorgestellte Gemeinschaften, die letztlich aus dem kulturell konstruierten Empfinden der Zusammengehörigkeit entstehen und keineswegs zwangsläufig auf Kosten anderer, territorial konkreterer Bindungen gehen müssen.
Entsprechend überzeugend
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