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Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Titel: Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Wirsching
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Labour Party absorbieren. Statt dessen wurden sie zum Subtext des Begehrens nach mehr nationaler Unabhängigkeit.
    1981 gründete der Politikwissenschaftler Jack Brand die
Campaign for a Scottish Assembly,
eine Bewegung, die in den folgenden Jahren immer stärkeren Rückhalt gewann. In das Vakuum, das die Stimmverluste der Konservativen und der Labour Party hinterließen, strömten die Liberalen und die
Scottish National Party
ein. Beide machten sich zu nachhaltigen Anwälten der «Devolution», das heißt der Übertragung der parlamentarischen und administrativen Hoheit auf ein unabhängiges Schottland. Freilich dauerte es noch bis 1999, bevor aufgrund eines klaren Referendums zwei Jahre zuvor ein regionales Parlament in Edinburgh zusammentrat.[ 163 ] Im Rahmen der britischen Geschichte hatte diese Wendung einen sensationellen Anstrich, machte sie doch Teile der Union von 1707 rückgängig. Andererseits handelte es sich de facto doch mehr um eine Parlamentarisierung und Dezentralisierung jener Kompetenzen, die zuvor über mehr als ein Jahrhundert beim
Scottish Office
angesiedelt waren.[ 164 ] Dieser Prozeß bewegte sich im Hauptstrom der europäischen Entwicklung seit den 1980er Jahren, in der sich regionale und nationale Identitäten verstärkten und immer häufiger durch die Verlagerung von zentralen Kompetenzen zusätzlich gefördert wurden. Daß das neue Gebäude des schottischen Parlaments in Edinburgh von dem katalanischen Architekten Enric Miralles konzipiert wurde – dessen Entwurf sich in dem ausgeschriebenen Wettbewerb durchsetzte –, entbehrte denn auch nicht der tieferen Symbolik.
    Katalonien und Schottland können mithin als herausragende Beispiele gelten für eine «gelungene» Dezentralisierung im neuen Europa. Ohne daß nationalstaatliche Grenzen bisher nachhaltig in Frage gestellt worden wären, trugen kulturelle Autonomieregelungen und die Verlagerung legislativer Kompetenzen dazu bei, die sich nachhaltig verstärkenden regionalistischen und nationalen Ansprüche zu befriedigen. Als weitere Beispiele für diesen Prozeß ließen sich Südtirol und Korsika anführen. Im Trentino etwa wandelte sich die Südtiroler Volkspartei von einer irredentistischen Bewegung zur quasi-hegemonialen Treuhänderin der 1972 neu statuierten regionalen Autonomie und wurde zugleich zur Hauptnutznießerin der provinzialen Verwaltungsmacht.[ 165 ] Die Korsen wurden erstmals 1981 von Präsident François Mitterrand in ihrer kulturellen und «nationalen» Eigenständigkeit anerkannt und profitierten von erheblichen Finanzmitteln, die Frankreich und die Europäische Union für die regionale Entwicklung der Mittelmeerinsel aufbrachten. Im Trentino wie auf Korsika sind seit den1980er Jahren die regionalistisch-nationalen, zuvor nicht selten auch mit terroristischen Mitteln ausgetragenen Konflikte deutlich zurückgegangen.
    Ein Gegenbeispiel, das zeigte, wie sich auch unter den Bedingungen fortschreitender Dezentralisierung Konflikte massiv verschärfen konnten, bot Belgien. Seit der Staatsgründung im Jahre 1831 zunächst nach französischem Vorbild zentralistisch verfaßt und politisch unter frankophoner, wallonischer Dominanz stehend, erzielte der flämische Bevölkerungsteil nur allmähliche und partielle Fortschritte in der Anerkennung der niederländischen Sprache. Schwere Konflikte waren die Folge. Angesichts fortschreitender Französisierungstendenzen bildete die territoriale Fixierung der Sprachräume eine notwendige Voraussetzung zur Pazifizierung. Nach Vorläufern erfolgte diese im Jahre 1970, als die belgische Verfassung vier Sprachgebiete – das niederländische, das französische, das zweisprachige Brüssel und das deutschsprachige Gebiet um das ostbelgische Eupen – sowie drei Kulturgemeinschaften kodifizierte (die französische, niederländische und deutsche). Seitdem vollzog sich ein überaus dynamischer Prozeß der Dezentralisierung und Föderalisierung, der Belgien mehr oder minder komplett vom Einheitsstaat zum Bundesstaat transformierte. Angetrieben wurde dieser Prozeß keineswegs nur durch den flämischen Regionalismus, sondern auch von einem zunehmend erwachenden wallonischen Eigenbewußtsein. Einmal mehr verknüpften sich dabei «nationale», das heißt kulturelle und sprachliche Kriterien mit sozialen und ökonomischen. Die Krise der Schwerindustrie und der Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft verschoben seit den 1950er Jahren die wirtschaftlichen Parameter des Landes zugunsten des flandrischen

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