Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
Entscheidungen post festum zu legitimieren.[ 185 ]
Wieweit die Kritik an der Informalisierung und der damit verbundenen Entparlamentarisierung gerechtfertigt ist, muß dahingestellt bleiben. Leicht wird jedenfalls übersehen, in wie hohem Maße die parlamentarische Arbeit sich selbst bereits ausdifferenziert hat. Moderne Parlamente sind Arbeitsparlamente, deren gesetzgeberische Funktion überwiegend in den Ausschüssen stattfindet. Die hier zu leistenden Beiträge sind hochspezialisiert und können nur in arbeitsteiliger und längst nicht immer öffentlichkeitswirksamer Weise erbracht werden. Überdies sind viele Abgeordnete selbst, zumindest aber die Fraktionsführer an den informellen Aushandlungsprozessen in aller Regel beteiligt.
Daß die Parlamente als zentrale Organe des politischen Willensbildungsprozesses an Boden zu verlieren schienen, hängt eng mit dem zweiten Aspekt des politischen Formwandels zusammen: Er läßt sich als Medialisierung kennzeichnen. Auch im Verhältnis von Medien und Politik muß zwar strittig bleiben, ob die unverkennbaren Wandlungsprozesse der jüngsten Zeit grundsätzlich neu waren oder inwieweit sie bereits bekannte Konstellationen fortschrieben. So wohnten agonale, theatralisch-performative und auch skandalisierende Züge schon immer jeder Form demokratischer Politik inne. Unbestritten bleibt jedoch, daß die allgegenwärtigen elektronischen Medien diese Züge weiter verstärkten. Sie übten einen steten und zunehmenden Druck auf die politischen Akteure aus, die sich ihrerseits hierauf einstellen mußten. Denn der Dauerdruck der Medien machte Vertraulichkeit praktisch unmöglich und verlangte den politischen Akteuren ein Sprachverhalten ab, das keine öffentlichen Angriffsflächen bot. Entsprechend verbreitete sich die Klage über die «aalglatten» Leerformeln und die formelhafte Erstarrung der Politikerstatements.
Umgekehrt aber stieg für die Politiker die Versuchung oder sogar die Notwendigkeit, sich selbst mittels der Medien ins rechte Licht zu setzen. Zumindest die führenden Akteure gaben sich immer weniger mit ihrer passiven Rolle als Gegenstand der öffentlichen Berichterstattung zufrieden, sondern drängten selbst aktiv in die Medien. Auf diese Art ließ sich der Bekanntheitsgrad erhöhen, das eigene politische Gewicht unterstreichen und möglichst große mediale Verkaufsflächen erzielen. Die Kritik hieran blieb schon in den 1980er Jahren nicht aus. Allzu sehr schien das Erscheinungsbild von Politikern, ihr «Image», zum Selbstzweck zu werden und die eigentlichen politischen Themen in den Hintergrund zu drängen. Die gewandelte Medienstruktur und die Allgegenwart der elektronischen Medientrugen zu dem problematischen Bild der Berufspolitiker bei, die sich zwar für die eigene Karriere und Versorgung stark interessierten, zur Sache aber nichts Substantielles mehr zu sagen hatten. Zunehmend wurden politische Themen in Talkshows verhandelt, über deren sachliches Niveau man zumindest geteilter Meinung sein konnte. Übermäßige Selbstdarstellung der Akteure und teilweise hysterisch aufgeladene öffentliche Spiegelfechtereien bestätigten kritische Ansichten über bloßes «Infotainment», den Showcharakter und den Substanzverlust der Politik.
Mithin ließ sich in allen westlichen Demokratien seit den 1980er Jahren eine gemeinsame Tendenz beobachten: Zwischen der öffentlichen Präsentation von Politik einerseits und dem komplexen Gehalt, aber auch den Zwängen konkreter Sachpolitik andererseits tat sich eine Kluft auf, das heißt es entstand eine Art Doppelstruktur demokratischer Politik. Die Folgen waren ambivalent: Einerseits erfüllten die Medien zwar eine für die moderne Politik schlicht unentbehrliche komplexitätsreduzierende Funktion. Andererseits aber stieg ihre Bedeutung für das politische Agendasetting, und zunehmend erfuhr die Masse der Stimmbürger Politik überhaupt nur noch in der durch die Medien vermittelten Form. Wenn aber das Publikum zwischen der Politik und der medialen Repräsentation des Politischen nicht mehr zu unterscheiden vermochte, kam es im Wortsinne zu einer Mediatisierung der politischen Willensbildung. Zugleich stieg unter den Regierenden die Neigung zu einem «prinzipiellen Zynismus […], der zwischen dem, was geschieht, und dem, was öffentlich dazu gesagt werden muß, eine unüberbrückbare Kluft entstehen läßt».[ 186 ]
Fragen läßt sich, ob die erneute grundlegende Veränderung der Medienstruktur durch die jüngst stark
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