Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
Epochal neuartig war allerdings, daß jene Institutionen, die in der Vergangenheit gegen die Komplexitäts- und Kontingenzerfahrung errichtet worden waren, am Ende des 20. Jahrhunderts definitiv ihre Bindekraft verloren. Das bürgerliche Europa hatte sie in dem Maße geschaffen, in dem die alte Welt der Ständegesellschaft erodierte undschließlich zusammenbrach. Es entwickelte neue Modelle der Vergemeinschaftung und formte die alten Systeme politischer Herrschaft in moderne Staatlichkeit um. So bildeten die sozialkulturellen Regeln und politischen Organisationen des 19. Jahrhunderts im Grunde bürgerliche Vorsorgeeinrichtungen und Versicherungspolicen gegen die Ungewißheit des Daseins. Als Schutzmacht, die den Menschen vor einer ihn überfordernden Kontingenzerfahrung zu bewahren suchte, spielte der Nationalstaat die prominenteste Rolle. Seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts begann er jedoch – nach einem Bonmot Daniel Bells – zu klein für die großen, aber zu groß für die kleinen Probleme des Lebens zu werden.[ 180 ] Zumindest scheinbar sanken daher seine Funktionalität und Problemlösungskompetenz. Und zurück ging auch die Bindekraft anderer «moderner» Institutionen: Familie, Kirchen, Verbände und andere subsidiäre Organisationen. Vor diesem Hintergrund gewannen partikulare Identitätsangebote an Attraktivität. Im Vergleich zum demokratischen Nationalstaat schienen sie eine überzeugendere Orientierung und nachhaltigere Daseinsvorsorge zu bieten.
Aber nicht nur die neue kulturelle Vielfalt wurde zum politischen Gegenüber des demokratischen Nationalstaates.[ 181 ] Denn mit der Erosion der traditionellen Institutionen verband sich außerdem ein gewaltiger, in dieser Form neuer Individualisierungs- und Pluralisierungsschub. Jenseits der traditionellen, durch Religion und Geschlechterrollen, durch Ausbildung und Erwerbsarbeit strukturierten Lebensläufe entstanden seit den 1970er Jahren neue Formen der Privatheit und Ansprüche auf Selbstbestimmung. Auf der Basis eines historisch singulären Wohlstands, eines steigenden Bildungsniveaus und eines sich immer weiter ausdehnenden Freizeit- und Konsumangebots vervielfältigten sich einerseits die biographischen Optionen, das heißt die möglichen individuellen Lebensentwürfe. Andererseits aber resultierte hieraus nicht nur eine vormals unbekannte Pluralisierung der Lebensformen, sondern es entstanden auch neue Formen des Entscheidungsdrucks. Wie immer in der Geschichte gebar die neue Freiheit des Individuums auch neue Risiken. Veränderungen in der Arbeitswelt und der Rückgang der Lebensarbeitszeit, die nachlassende Bindekraft der Familie und die dynamische Hinwendung zu Selbstentfaltungswerten steigerten die gesellschaftliche Komplexität. Der Politik erwuchs hieraus eine Fülle neuer Sachzwänge und offener Rechtsfragen, und dementsprechend erhöhte sich der politische Regulierungsbedarf. Die Politik wurde gesellschaftlich offener, gleichsam «inklusiver» und damit auch demokratischer; dies erhöhte die Zahl der politischen Mitspieler, deren Erwartungen und Ansprüche moderiert werden mußten. Zugleich vertiefte sich die Kluft zwischender komplizierten politischen Praxis demokratisch gewählter Akteure und den häufig eher schlichten Ansprüchen, die Publikum und Stimmbürger an die Politik der Demokratie stellten.[ 182 ]
Neue kulturelle Vielfalt und gesellschaftliche Pluralisierung verbanden sich schließlich drittens mit den sozialpolitischen Herausforderungen der Globalisierung. Es ist unbestritten, daß die Kräfte der weltweiten Liberalisierung den Wettbewerbsdruck auf die europäischen Staaten erhöhten. Insbesondere jene Gruppen, deren Wohlstand vom Schutz durch nationale Grenzen abhing – wie zum Beispiel die klassische Industriearbeiterschaft –, mußten die Globalisierung als Bedrohung betrachten. Für die Politik erhöhte dies den Druck: Sie mußte den etablierten, durch vielfältige Individual- und Gruppenansprüche überwucherten westlichen Sozialstaat reformieren, um ihn funktionstüchtig zu halten. Zugleich aber hatte sie mit einer zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung zwischen «Verlierern» und «Gewinnern» der globalen Veränderungen zu rechnen.
Die Folge war ein fundamentales Paradox in der jüngsten Geschichte der Staatstätigkeit in Europa. Einerseits lautete das wichtigste Rezept zur Krisenbewältigung: weniger Staat, Privatisierung und Entfesselung der Marktkräfte; und die «neoliberale» Politik der 1980er
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