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Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Titel: Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Wirsching
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läßt sich daher fragen, demokratische Politiker die Stellvertretung übernommen?
    Informalisierung, Medialisierung und Personalisierung – dies waren entscheidende Antriebskräfte im Formwandel des Politischen, die zusammengenommen maßgeblich zur «Politikverdrossenheit» in Europa beitrugen. Vielen drängte sich der Eindruck auf, die Politik tendiere im demokratischen System der Gegenwart zur Degeneration. Im doppelten Sinne machte sich die Kluft zwischen der durch Wahlen und Wahltermine vorgegebenen Zeitstruktur und den realistischen Zeithorizonten der Problemlösung bemerkbar: Waren Parteien und Politiker allzu eigensüchtig und nur an der kurzfristigen Festigung ihrer Macht interessiert? Oder vollzogen sich politische Reformprozesse quälend langsam und führten überdies kaum jemals zu einem befriedigenden Ergebnis? Das Mißbehagen an der Politik jedenfalls, an ihren Institutionen und Repräsentanten durchzog die Geschichte der 1990er und 2000er Jahre wie ein roter Faden. Umgekehrt entsprach dem allerdings ein tiefgreifendes Bewußtsein der Ohnmacht, das politischeAmts- und Mandatsträger häufig plagte; empfanden sie es doch als dauerhafte Bürde, ihr Handeln und ihre Entscheidungen «draußen» nicht angemessen darstellen und «verkaufen» zu können. Für beide, das Publikum wie die Politiker galt der Satz Ralf Dahrendorfs: «Mit Komplexität leben zu lernen – das ist vielleicht die größte Aufgabe demokratischer politischer Bildung.»[ 191 ]
    Indes erstreckte sich der Formwandel der Politik in Europa keineswegs nur auf die beschriebenen Tendenzen, sondern er veränderte auch die transnationale politische Kommunikation in Europa. Zwar gehört es zu den regelmäßigen Einwänden der Skeptiker, daß eine europäische Öffentlichkeit nicht existiere, daher auch keine echte parlamentarische Demokratie auf europäischer Ebene möglich sei. So wenig dies auch im einzelnen zu bestreiten ist, zumindest wenn man es am Idealbild einer diskursiven Öffentlichkeit mißt, so offensichtlich vollzieht sich doch ein bemerkenswerter Zuwachs an europäischer Kommunikation. Repräsentanten der einzelnen Staaten und Konzerne kommunizieren ohnehin beständig miteinander, und auch in den Medien nimmt die Präsenz europäischer Themen zu.[ 192 ] Zwar agieren die Medien nach wie vor ganz überwiegend auf nationalen Märkten; aber europäische Ereignisse und Probleme sind regelmäßige Gegenstände der nationalen Berichterstattung und Meinungsbildung. Repräsentanten europäischer Nachbarländer und der Europäischen Union werden als legitime Sprecher akzeptiert.[ 193 ] Zwar sind die direkte politische Kommunikation und der Auftritt in den Medien weitgehend auf die europäischen (Regierungs-)Eliten beschränkt; aber sie werden begleitet von dem immer mächtigeren Internet als einem ohnehin per se grenzüberschreitenden Medium mit allgemeiner Zugänglichkeit. Die europäischen Institutionen finden hier ihre wichtigste öffentliche Präsenz; und zugleich findet im Netz ein beständiger Diskurs über Fragen der Europäisierung ebenso wie über zentrale europäische Themen statt. Auch dies gehört zum Formwandel des Politischen im neuen Europa.
Parteien in der Kritik
    Dieser hier nur summarisch beschriebene Formwandel betraf in besonderer Weise die Parteien. In der Geschichte der europäischen Demokratie gehört es zu deren wichtigsten Funktionen, das Massenpublikum in den demokratischen Willensbildungsprozeß zu integrieren. Parteien bilden die entscheidenden Schnittstellen zwischen Politik und Gesellschaft und erfüllen eine zentrale Aufgabe, indem sie gesellschaftliche Anliegen aufnehmen, transportieren und auf die politische Tagesordnung setzen. In Westeuropa pendelten sich nach 1945 überraschend schnell entsprechende politischeParteienverhältnisse ein, zum Teil in Anknüpfung an die Vorkriegszeit. Tatsächlich restaurierte sich ein Parteiensystem der Eliten, jener alteuropäischen Eliten, die noch im 19. Jahrhundert sozialisiert worden waren. Sie rekrutierten sich in allen westeuropäischen Demokratien aus den vier klassischen Grundströmungen des 19. Jahrhunderts, nämlich aus der sozialistischen Arbeiterbewegung, dem Liberalismus, dem Konservatismus und der christlichen Demokratie.
    Zwar läßt sich mit Blick auf die Parteiensysteme in den einzelnen Ländern von verschiedenen Typen sprechen – vom britischen Zweiparteiensystem bis zum stärker polarisierten Mehrparteiensystem in den Niederlanden oder in Italien. Auch gab

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