Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
Proletarität» diagnostiziert.[ 198 ] Im Zuge des Übergangs zur postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft schrumpfte die Zahl der Arbeiter rein quantitativ, während auch ihre gewerkschaftliche Organisationsdichte zurückging. Allgemein gestiegener Lebensstandard und Rückgang der Arbeitszeit gebaren neue Konsum- und Freizeitprioritäten. Eine spürbare lebensweltliche Abwendung von der traditionellen Arbeiterkultur und ihren identitätssichernden Organisationen war die Folge. Hinzu traten neue Polarisierungen innerhalb der Arbeiterschaft, insbesondere gegenüber den Zuwanderern, die längst nicht überall solidarisch empfangen wurden. Die politischen Arbeiterparteien jedenfalls kämpften mit sinkenden Mitgliederzahlen, rückläufigen Wahlerfolgen und zurückgehendem gesellschaftlichen Einfluß.[ 199 ]
Aber auch in den traditionell kirchlich gebundenen sowie den bürgerlich-liberalen Milieus rüttelten Wertewandel und Individualisierung an der politischen Autorität der Parteien. Strikt «konservative» oder religiös gebundene Lebensentwürfe, die auf Familienbindung, Geschlechterordnung und Pflichtethos beruhten, verloren ihre Überzeugungskraft. Auch im konservativ-christlichen Milieu verschoben das Nachlassen der kirchlichen Bindung, der Wandel der gesellschaftlichen Stellung der Frau, die Vervielfältigung sozialer Optionen, neue familiäre Lebensverhältnisse, aber auch spezifische Ansprüche auf individualistische Selbstentfaltung und Karriereorientierung nachhaltig die Parameter der kulturellen Orientierung.
Unter diesen Bedingungen ging die Integrationskraft der von den alteneuropäischen Eliten geschaffenen Parteiensysteme deutlich zurück. Wie viele empirische Studien gezeigt haben, sank die populäre Identifizierung mit den etablierten Parteien rapide ab. Die Mitgliederzahlen erodierten ebenso wie die Wählerstabiliät. Statt dessen entstanden neue
cleavages
ethnischer, kultureller, aber auch sozialökonomischer Art, die unter den Wählern eine neue Unbeständigkeit bewirkte. Die «Volatilität» der europäischen Parteiensysteme ist daher zu einem Dauerthema der politikwissenschaftlichen Forschung geworden.[ 200 ]
Beide großen Lager suchten in den 1990er und 2000er Jahren ihre Anpassungsprobleme primär dadurch zu lösen, daß sie in die Mitte der Gesellschaft drängten. Sozialdemokratische und sozialistische Parteien verabschiedeten sich endgültig von ihrer traditionellen Klassenbindung. Sie akzeptierten den gestiegenen Wettbewerbsdruck und die Dominanz des Marktes ebenso wie die Notwendigkeit, die Sozialsysteme zu reformieren, um sie im Kern funktionsfähig zu erhalten. Schon François Mitterrand, der 1981/82 noch mit den Kommunisten koaliert hatte, beugte sich der entsprechenden Einsicht. Und um 2000 waren «New Labour» unter Tony Blair in Großbritannien sowie die Reformagenda unter Gerhard Schröder in Deutschland die prominentesten Beispiele dieses Trends.
Umgekehrt akzeptierten die christlich-demokratischen und konservativen Parteien die Folgen des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels und verzichteten auf religiös oder national grundierte Fundamentalpositionen sowie auf einen gesellschaftspolitischen
Roll back.
Statt dessen setzten sie auf Liberalisierung und Privatisierung, Marktpriorität und Rückzug des Staates, was seinerseits ihre wertkonservative Klientel zu verschrecken drohte. Aber die immer wieder gehörte Forderung, das eigene konservative Profil zu «schärfen» und sich auf die «Stammwählerschaft» zu konzentrieren, mußte die konservativen und christdemokratischen Parteien programmatisch überfordern, wenn sie adäquat auf neue Herausforderungen reagieren wollten. Das alte Dilemma des Konservatismus, traditionelle Werte bewahren zu wollen, zugleich aber auf soziale und kulturelle Modernisierungen eine Antwort finden zu müssen, tauchte hier in neuer Form wieder auf. Mit welchem Programm die christlich-demokratischen und konservativen Parteien dieses Dilemma aufzulösen gedachten, blieb daher eine unbeantwortete Frage.
Zumindest vordergründig stabilisierte die Konvergenz der beiden großen politischen Kräfte in der liberalen Mitte die politischen Systeme. Aber für beide Seiten war dieser Kurs mit erheblichen Risiken verbunden. Im Extremfall begaben sie sich sogar in eine Art Teufelskreis, der allerdings kaum vermeidbar war. Denn die Strategie, die Mitte zu besetzen, war zwar zwingend erforderlich, um strategische Mehrheiten zu ermöglichen. Abersie ließ
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