Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
Kanzlerschaft Helmut Kohls, nachdem sein Ansehen schon 1984/85 infolge des Flick-Spendenskandals nachhaltig gelitten hatte. In Großbritannien machte der sogenannte «Cash-for-honours-Skandal», der 2006 von der Scottish National Party aufgerollt wurde, über viele Monate hinweg Schlagzeilen. Der regierenden Labour Party wurde vorgeworfen, im Gegenzug zu großzügigen Parteikrediten die Spender nobilitiert und ihnen damit zur lebenslangen Mitgliedschaft imHouse of Lords verholfen zu haben. Im Verlauf dieses Skandals wurde sogar Tony Blair als erster amtierender Premierminister in der britischen Geschichte von der Polizei vernommen. Am Ende stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren mit der Begründung ein, Lord-Titel seien zwar möglicherweise durchaus gegen Geld verliehen worden, aber eine entsprechende und im voraus getroffene Übereinkunft sei nicht nachweisbar gewesen. Im Sommer 2010 schließlich gerieten der französische Präsident Sarkozy und seine Regierung unter erheblichen Druck, als ruchbar wurde, daß sein Wahlkampf durch illegale Spenden der Milliardärin Liliane Bettencourt unterstützt worden war.
Am dramatischsten entwickelte sich die Parteienkorruption freilich in Italien, wo 1992 zunächst in Mailand lokal begrenzte Ermittlungen begannen, die sich aber bald auf das ganze Land ausdehnten. Bereits 1993 standen mehr als 150 italienische Parlamentarier und rund 900 Kommunalpolitiker unter Anklage.[ 196 ] In den Sog der Ermittlungen gerieten auch viele prominente Politiker, mit dem Vorsitzenden der PSI (Partito Socialista Italiano), Bettino Craxi, an der Spitze. Das Ergebnis war verheerend; die immer stärker anwachsende Lawine des Skandals begrub am Ende das ganze italienische Parteiensystem unter sich. Die beiden traditionsreichen großen Parteien, der PSI und die DC (Democrazia Cristiana), taumelten 1993 und 1994 an den Wahlurnen ins Nichts und lösten sich auf. In der Folge kam es zu einer kompletten Neufiguration des italienischen Parteiensystems, das nun durch den Aufstieg populistischer Kräfte wie der Lega Nord und vor allem Berlusconis Forza Italia gekennzeichnet war.
Aber natürlich wäre es zu einfach, den politischen Wandel der Demokratien auf die Korruption ihrer Parteien zurückzuführen. Zwar gab es konkrete Zusammenhänge zwischen Vorgängen in einzelnen Ländern und der jeweils spezifischen parteipolitischen Entwicklung. Aber insgesamt blieben Skandale letztlich doch eher die Ausnahme; meist wurden sie von einer investigativen Presse und einer wachsamen Öffentlichkeit an die Oberfläche gezerrt, so daß sich die westlichen Demokratien mit Recht einer gewissen Transparenz rühmen konnten. Parteienkritik und der ihr zugrunde liegende Vertrauensverlust hatten jedenfalls tiefere und keinesfalls nur nationale Ursachen. Dies erweist sich eindeutig aus dem gemeineuropäischen Muster des Geschehens. So wie sich nach 1945 ein gemeinsamer westeuropäischer Typus des Parteiensystems entfaltete, so gerieten die etablierten Parteien seit den 1980er Jahren in einen allgemeinen und länderübergreifenden Sog des Misstrauens und der Erosion, und dies letztlich unabhängig von einzelnen Affären und Skandalen.
Tatsächlich sahen sich die Parteiensysteme der alten europäischen Elitenseit Ende der 1970er Jahre mit dem ganzen komplexen Bündel jener Probleme konfrontiert, welche die Formen demokratischer Politik unausweichlich veränderten. Während eine ältere Politikergeneration, die den Zweiten Weltkrieg noch aktiv erlebt hatte, allmählich abtrat, verengten sich die materiellen Verteilungsspielräume massiv. Auf die Zeit der Fülle während des Booms folgte eine Zeit der Knappheit. Kernprobleme wie Haushaltssanierung und Wachstumsschwäche, Arbeitslosigkeit und soziale Gerechtigkeit avancierten zu Dauerthemen auf der politischen Tagesordnung; und sie forderten die politisch-programmatische Kraft der Parteien aufs äußerste.
Überdies beschleunigte sich in der wirtschaftlich schwierigen Zeit «nach dem Boom»[ 197 ] die Auflösung traditioneller Lager sowie jener Milieus, aus denen die etablierten Parteien jahrzehntelang ihre Mitglieder und Wähler rekrutiert hatten. Besonders schmerzhaft erfuhren dies die Arbeiterparteien. So unterlag die klassische Industriearbeiterschaft – über ein Jahrhundert hinweg deren treue Mitglieder- und Wählerschaft – einem forcierten Strukturwandel. In der Bundesrepublik Deutschland zum Beispiel wurde in den 1980er Jahren ein vielbeachteter «Abschied von der
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