Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
es zum Beispiel in Großbritannien und Frankreich keine ausgeprägte christlich-demokratische Parteiströmung, während diese doch in den meisten anderen Ländern Westeuropas eine zentrale Rolle spielte. Im einzelnen also bewegten sich die Parteiensysteme auf unterschiedlich gepflasterten nationalen Pfaden; und im Grad ihrer Kohärenz beziehungsweise Polarisierung unterschieden sie sich. Trotzdem aber läßt sich mit einigem Recht von einem historischen Typus des westeuropäischen Parteiensystems sprechen, dessen nationale Spezifika eher als Typusvarianten gelten können. Dieser Typus läßt sich als bipolares Mehrparteiensystem bezeichnen, das heißt ein Gegenüber zweier großer Blöcke, die sich in gewisser Regelmäßigkeit und mit unterschiedlichen Koalitionen in der Regierung abwechselten: die «Linke» aus Sozialisten bzw. Sozialdemokraten und die «Rechte», bestehend aus Christdemokraten, Konservativen und Liberalkonservativen. Zugleich kennzeichnete es die westeuropäische Parteienkultur, daß sie extremistische Systemgegner von der Regierungsteilhabe strukturell ausschloß und demgegenüber, wenn nötig, die Gemeinsamkeit der Demokraten in der Mitte betonte.
Vor diesem Hintergrund entfalteten die Parteiensysteme nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst eine jahrzehntelange Stabilität. In der Bundesrepublik Deutschland entstand eine nachhaltige Koalitionskultur mit drei Parteien, in Österreich eine ebenso dauerhafte Kultur der Großen Koalition. In Großbritannien setzte sich das traditionelle Zweiparteiensystem auf der Basis des Mehrheitswahlrechts fort; und im Frankreich der Fünften Republik entwickelte sich ein strategisches Gegenüber zwischen der «Rechten» um die Gaullisten sowie die bürgerliche Sammlungspartei UDF (Union pour la démocratie française) und den Sozialisten, die nur in der frühen Ära Mitterrand von den Kommunisten unterstützt wurden. In Italien schließlich begründete das Wechselspiel zwischen Christdemokraten und Sozialisten ebenfalls eine Art Zweiparteiensystem, aus dem die radikalen Flügelparteien – Kommunisten und Neofaschisten – ausgeschlossen blieben.Bei allen Unterschieden im einzelnen: Staatspräsidenten, Regierungschefs und Minister kamen in allen westeuropäischen Demokratien aus dem klassischen Parteienspektrum: dem Lager der Sozialdemokraten bzw. Sozialisten, der Christdemokraten oder Konservativen sowie der Liberalen. Insofern läßt sich für die Zeit nach 1945 durchaus auch von einer gemeineuropäischen Parteienentwicklung sprechen.
Nicht zufällig entwickelte sich deren Stabilität parallel zu den Jahrzehnten des Booms. Indem die wirtschaftliche Prosperität die Verteilungsspielräume erweiterte, festigte sie mit der Demokratie auch die Parteiensysteme in Europa. Allerdings hatte dies seinen Preis. Parteien und ihre Politiker sicherten sich in einer Zeit der ökonomischen Fülle zunehmend Privilegien, was sie umgekehrt in eine fortschreitende Abhängigkeit vom Staat brachte. Sich öffnende Karriere- und Rekrutierungspfade infolge eigener Regierungsbeteiligung, lukrative Versorgungsbezüge, großzügige Alimentierung aus staatlichen Mitteln, die Vergabe von Sendezeiten in den öffentlich-rechtlichen Medien, der allgemeine gesellschaftliche Einfluß aufgrund des Parteienproporz: In jeweils spezifischen Mischungsverhältnissen eröffnete dies in allen westeuropäischen Demokratien entscheidende Aktionsräume für die Parteien, die sich mehr und mehr zu «Kartellparteien» entwickelten.[ 194 ] Im Ergebnis läßt sich beobachten, wie die Akteure im Grunde nur «rational», das heißt im wohlverstandenen Eigeninteresse handeln mußten, um damit die Monopolisierung der Politik und die «Kartellisierung» ihrer Privilegien voranzutreiben.[ 195 ]
In den Zeiten ökonomischer Knappheit, die Ende der 1970er Jahre anbrachen, lag hier ein entscheidender Hebel für die öffentliche Parteienkritik. In den Augen des Publikums schienen Parteien immer weniger unterscheiden zu wollen zwischen ihrer eigenen Rolle und dem aufs Allgemeinwohl verpflichteten Staat; im Gegenteil, immer rücksichtsloser schienen sie sich den Staat zur Beute zu machen.
Im Extremfall barg dies den Keim der Korruption. Wie Krebsgeschwüre nisteten sich seit den 1990er Jahren langwierige Affären um illegale Parteispenden in das politische Leben der großen Demokratien ein. In Deutschland warf eine 1999 in Gang kommende umfangreiche Parteispendenaffäre der CDU rückwirkend tiefe Schatten auf die
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