Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
zunehmende Bedeutung der neuen sozialen Medien dazu beitragen könnte, die Kluft teilweise zu überbrücken. Medien wie «Twitter» sowie die unzähligen Internetforen und politischen Blogs bieten dem einzelnen neue Möglichkeiten, sich politisch zu artikulieren. Ob damit ein Gewinn an demokratischer Pluralität oder doch eher eine weitere Fragmentierung des politischen Prozesses verbunden ist, bleibt indes eine offene Frage.
In jedem Fall korrespondierte das gestiegene Gewicht der Medien mit einer spürbaren Tendenz zur Personalisierung, die als drittes Element im Formwandel des Politischen bezeichnet werden kann. Natürlich war auch die Zuschreibung von politischer Bedeutung an Einzelpersonen keineswegs etwas grundsätzlich Neues. Charles de Gaulle war in der französischen Nachkriegszeit geradezu das Musterbeispiel einer personalisierten Politik. Gut bekannt ist auch, wie sich etwa Willy Brandt schon in den 1960er Jahren von amerikanischen Formen des personalisierten Wahlkampfesinspirieren ließ.[ 187 ] Aber während Personen in früheren Epochen meist für konkrete Inhalte und Standpunkte standen, ihre Wahl also als politische Richtungswahl gelten konnte, stellte die jüngere Entwicklung die Person als solche, jenseits der Inhalte, in den Mittelpunkt. Allerdings muß auch diese Tendenz differenziert betrachtet werden. Denn einerseits entsprach es durchaus einer inneren Logik, wenn in Zeiten der globalen Herausforderung und der räumlichen Entgrenzung von Politik die Rolle der Akteure an Bedeutung gewann. Denn wurden nicht die relevantesten, gewissermaßen «existentiellen» Entscheidungen immer häufiger von aufwendig inszenierten internationalen Gipfel- und Ministertreffen gefällt? Hier entschieden demokratische Spitzenpolitiker über bewaffnete Interventionen und globale Strategien. Sie schnürten internationale Notfallpakete und brachten gegebenenfalls binnen weniger Tage Milliardenbeträge zur Beruhigung der Finanzmärkte auf. Dementsprechend richtete sich die geballte mediale Aufmerksamkeit auf die handelnden Personen. Regierungs- und führende Ressortchefs fanden in den internationalen Spitzentreffen regelmäßig eine Bühne, die ihnen kurzfristig auch die Flucht aus den Niederungen der heimischen Tagespolitik erlaubte. So entstand der Eindruck von beträchtlichen Handlungsspielräumen, ja von persönlicher Macht. Aller empfundenen Schwächen der Demokratien zum Trotz, schienen doch zumindest durchaus starke Regierungen am Werke zu sein.
Ganz im Gegensatz zum Empfinden der Öffentlichkeit schrumpfte aber der faktische Gestaltungsspielraum von Einzelpersonen. Aktionsradius und persönliche «Macht» der Spitzenpolitiker erschöpften sich in den Sachzwängen des internationalen Krisenmanagements. Überdies standen die Herrschaft der Apparate und die durchgehend empfundene Technokratisierung der Politik einer gestaltenden Rolle des Einzelnen entgegen. Damit erfuhren die Politiker ein fundamentales und ganz persönliches, manchmal schmerzhaft empfundenes Paradox. Während sie sich international an den gleichsam «großen Auftritt» gewöhnten, spielten sie nämlich in der nationalen Öffentlichkeit eine ganz andere Rolle. Hier fungierten die demokratischen Spitzenpolitiker stets selbst als unentbehrliche Medien und Projektionsflächen für die Reduktion eben jener Komplexität, die ihnen in der politischen Praxis zu schaffen machte. Mit anderen Worten: Politiker sollten in der «großen Politik» die gestiegene Komplexität bewältigen und diese zugleich dem nationalen Publikum mundgerecht «erklären» und sie damit reduzieren. Regelmäßig wurden von ihnen Antworten auf politische Fragen erwartet, die sie aus sachlichen Gründen nicht geben konnten oder – den Blick auf Wahlen und Umfrageergebnisse fixiert – nicht geben wollten. Nicht selten sprachen sie daher bevorzugt von wirtschaftlichenund politischen Zwängen, um den Kontingenzcharakter ihrer Aufgaben zu betonen und die Last ihrer politischen Verantwortung zu mindern.
Die Senatorin Ada Spadoni spricht Berlusconi während einer Vertrauensabstimmung im September 2010 Mut zu
Umgekehrt nutzten Politiker, die ohnehin zum Populismus neigten, den Trend zur Personalisierung ganz gezielt für ihre eigenen Zwecke. Denn wenn Personalisierung eine – in der Demokratie notwendige – Form der Reduktion von Komplexität bedeutete, dann ließ sich auch unmittelbares politisches Kapital hieraus schlagen. Das schillerndste Beispiel hierfür war der italienische
Weitere Kostenlose Bücher