Der Preis des Lebens
nach unten warf, sah der Vampir durch die Sehschlitze zwischen seinen Füßen zwei leicht zurückversetzte Reihen dickbauchiger Holzfässer, die wie eine Pfeilspitze zu den Häusern des Dorfes deuteten. Hinter den Fassreihen hatten sich die von Lorn im Wirtshaus rekrutierten Egemunder aufgestellt. Vor jedem Bogenschützen steckten neben zwei noch nicht entzündeten Fackeln ein knappes Dutzend Pfeile im Boden, während hinter den Männern andere Verteidiger mit einer Axt, einer Sense, einer Sichel oder – in Fugars Fall – einem Hammer warteten.
Sobald die Wölfe durch das Tor brachen, würden Lorn und die Männer ihnen einen entsprechenden Empfang bereiten.
Dennoch stand Visco hier oben auf dem Wall.
Und auch wenn manch ein Dörfler das insgeheim anders sah, wusste Visco, dass sein Platz tatsächlich hier oben und nicht unten bei Lorn und den anderen war. Denn obwohl seine Sinne mit der Rückkehr hinter die Grenze des Lebens und der Zeit viel von ihrer einstigen Überlegenheit eingebüßt hatten, waren sie immer noch schärfer als die aller anderen und ließen Visco beinahe vergessen, dass es stockfinstere Nacht war. Allerdings war es in diesem Fall gar nicht so leicht, sich auf Sinnesreize aus dem Dunkel zu konzentrieren, da die Männer neben Visco mit ihren vor Furcht wild hämmernden Herzen nahezu überpräsent waren und der Vampir sich nur mit Mühe gegen den köstlichen Geschmack ihrer Panik abschotten konnte. Nichtsdestoweniger oblag es Visco, das Näherkommen ihrer Feinde aus der Finsternis möglichst bald zu erkennen.
Doch auch im Anschluss würde er weiter hier oben auf dem Wehrgang bleiben, um die Verteidigung des Walls zu koordinieren, während Lorn unten das Kommando hatte.
Wie ein lebendiges Wesen kroch der Nebel aus dem Wald und überzog Holz, Metall, Stoff, Haare und Haut mit klammer Feuchtigkeit, die wie die Furcht alles durchdrang und die Fackeln entlang des Walls leise zischen ließ. Visco schmiegte sich fester in seinen Umhang. Wehmütig erinnerte er sich an all die Jahre, in denen er sich nicht um solch profane Dinge hatte kümmern brauchen, ja sie nicht einmal wahrgenommen hatte. Diese Behaglichkeit hatte er jedoch zusammen mit seiner fragwürdigen vampirischen Unsterblichkeit gegen einen Fetzen seiner früheren Menschlichkeit eingetauscht. Außerdem wusste der geläuterte Vampir, dass es ihm trotz allem immer noch besser ging als den Egemundern. Er konnte sich schließlich in etwa vorstellen, was ihn erwartete. Die Dörfler hingegen ...
Ein wahr gewordener Albtraum bedrohte sie und ihre Familien. Sie wussten nicht, was die Äxte und Sensen in ihren zitternden Händen am Ende wirklich ausrichten mochten.
Was ein mögliches Opfer wert sein würde.
Ein Zupfen am Rande seines Unterbewusstseins riss Visco aus seinen Gedanken. Er spürte etwas hinter dem Waldrand.
Leben, das sich rasch näherte.
Wildes Leben, fiebrig, bereit zur Jagd und zum Töten.
Mit versteinerter Miene wandte Visco sich von der Balustrade ab und ging neben dem Geländer am hinteren Teil der Plattform in die Hocke. Die anderen Männer beobachteten ihn mit bangen, sorgenvollen Gesichtern.
»Mindestens zwanzig«, raunte der Vampir Lorn zu.
Der Jagam wartete am Ende der Leiter mit einem Bein auf der untersten Sprosse. Er nickte, das Gesicht ausdruckslos. Danach schritt er zu den Männern vor dem Tor, gab letzte Anweisungen und half, die restlichen Fackeln zu entzünden.
Visco drehte sich indessen ohne ein weiteres Wort wieder in Richtung Waldrand um. Er ignorierte die fragenden Blicke der Egemunder. Inzwischen schnappten seine Sinne immer wieder ein leises, nicht mehr allzu fernes Heulen auf, das wie eine böse Vorahnung auf dem Nebel zu reiten schien und mit den Schwaden gegen die Palisade brandete. Visco stand ein oder zwei Minuten einfach so auf der Plattform und starrte in die vom Nebel durchwaberte Nacht.
Gerade als der Vampir schließlich mit einer ruhigen Geste sein Rapier blank gezogen hatte, schossen im Schutz des Nebels die ersten Schatten aus dem Wald ...
*
Wäre die Spur der Wölfe am Nachmittag nicht buchstäblich im Steinbruch verlaufen, hätten Lorn, Visco und ein paar halbwegs beherzte Dörfler wie der Schmied oder der Bürgermeister Egemundes kleines Wolfsproblem noch vor Einbruch der Nacht lösen können. So blieb dem Dorf und seinen Verteidigern nur die Holzhammermethode – mit den in solchen Fällen unvermeidlichen Unmengen an Schweiß, Blut, Leid, Schmerz, Kummer und Tod.
Vor fünf Jahren hatte Lorn im
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