Der Preis des Lebens
Bitte.« Als er sah, dass Visco seine Erwiderung vorerst zurückhielt, atmete Flank tief ein. »Ich möchte gar nicht wissen, was wahr ist und was nicht. Ihr habt Narija gerettet. Und Ihr steht nun hier neben mir, obwohl Ihr Euch genauso gut mit Eurem Freund aus dem Staub hättet machen können. Daher habe ich Murvin gebeten, sein Wissen vorerst für sich zu behalten. Damit wir uns nach dieser Nacht damit befassen können.« Flanks Tonfall machte deutlich, dass er sich den Priester einfach nur vom Hals hatte schaffen wollen und eine weitere Verfolgung dieser Angelegenheit für das ergraute Dorfoberhaupt keineswegs zur Debatte stand, selbst wenn sie den folgenden Morgen erlebten. »Trotzdem würde mich interessieren, ob Eure ... Fähigkeiten für uns heute Nacht von Nutzen sein können?«
Visco zuckte mit den Schultern. »Ich kann kräftig zupacken, wenn's sein muss. Aber das wird mir gegen ein Rudel Werwölfe nicht viel nützen. Entweder besiegen wir die Biester gemeinsam – oder wir sterben heute Nacht alle zusammen.«
Flank nickte brüsk und blickte mit gerunzelter Stirn zum Waldrand. Das Licht bekam langsam einen rötlichen Schimmer. Bald würden die langen Schatten der Bäume ganz verschwunden sein – und mit ihnen das letzte Licht des herbstlich kurzen Tages, dem die dunklen Schwingen der Nacht folgen würden. Und das, was mit ihnen und der Finsternis kam.
»Ich bin ein wenig verwirrt«, gestand der Bürgermeister nach einem weiteren Blick zum Rand der Lichtung, als würde er seinen letzten, zusammenhanglosen Gedanken einfach nur laut aussprechen. »Bisher habe ich immer angenommen, dass Werwölfe sich nur bei Vollmond verwandeln und am nächsten Tag wieder normal sind. Zumindest bis zum nächsten Vollmond. Und was normal in ihrem Fall auch immer bedeuten mag ...«
Visco zog eine Augenbraue nach oben. Anscheinend war er in Flanks begrenztem Weltbild so eben zum wandelnden Atlas der Finsternis aufgestiegen.
»Natürlich schreibt man in den Schauergeschichten gerne, dass die schöne Schäferstochter sich am nächsten Morgen zurückverwandelt, nach dem Aufwachen an nichts mehr erinnern kann und auch nicht weiß, woher das Blut an ihren Händen kommt. Oder wo das kleine Lämmchen abgeblieben ist, das sie von Hand großgezogen hat. Aber in solchen Geschichten gewinnen am Ende ja auch immer die Guten.« Ein schmales Grinsen huschte über Viscos blasses Gesicht. »Doch die Wahrheit ist nun mal, dass viele nach ihrer ersten Verwandlung nicht selten ein Leben lang in der Gestalt des Wolfes zubringen, ohne auch nur einen einzigen Gedanken an eine Rückverwandlung zu verschwenden.«
»Großer Gott!«, keuchte Flank.
»Er kann nichts dafür, schätze ich. Manche Menschen sind einfach anfälliger für die Verlockungen der Finsternis als andere. Einer zeigt ihr sein Leben lang die kalte Schulter, während sein Nachbar sich ihr bereitwillig ergibt. Wenn solch ein Mensch vom Fluch des Werwolfs getroffen wird, kann man nicht davon ausgehen, dass er der Finsternis aus eigener Kraft entkommt. Und je länger diese Menschen schließlich in Wolfsgestalt auf Erden wandeln, desto mehr gewinnen der Wolf und die Finsternis in ihnen an Macht. Langsam aber sicher übernimmt der Wolf die Kontrolle, bis alles Menschliche aufgebraucht ist.« Visco dachte kurz über seine eigenen Worte nach. »Die Biester von letzter Nacht sind bereits vom Mond unabhängig und jagen im Rudel. Also sind sie schon sehr weit in der Finsternis verloren. Und dem Tier in sich wesentlich näher als dem Menschen. Aber denkt nicht, dass die Viecher deshalb allzu viel mit normalen Wölfen gemein haben. Unsere haarigen Freunde töten nicht fürs Überleben. Sie töten einzig und allein für die Finsternis, aus der sie kommen. Eine Art unheiliger Tribut, wenn Ihr so wollt.«
Flank schauderte. »Ich verstehe.« Wieder ließ das Dorfoberhaupt den Blick zu den schwarzen Besatzern des Leichenfelds und dem Waldrand dahinter schweifen. »Das alles klingt, als ob Ihr Eure eigene Erfahrung mit der Finsternis gemacht habt, wenn ihr mir diese Bemerkung gestattet«, meinte Flank nach einer Weile schließlich leise.
Visco antwortete ihm nicht.
*
Wolfsspuren, die auf immer steiniger werdendem Untergrund nur noch schwach zu erkennen sind, ehe sie auf hartem Fels schließlich ganz verschwinden. Ein finsterer Blick in den Steinbruch.
Das Wissen, dort und im Waldstück dahinter zwei Dutzend und mehr Orte aufspüren zu müssen, wo sie sein könnten. Ein Blick zum Himmel. Schwindendes
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