Der Preis des Lebens
Zeit, doch schließlich verlor Lorn die Geduld. Wie ein schwarzer Komet schlug seine Faust auf der Tischplatte neben ihm ein.
»Wenn es hier nur Feiglinge gibt, hätte ich auch nicht zurückkommen brauchen!«
Ein empörtes Raunen ging durch den Halbkreis der Dörfler.
Visco dagegen durchschaute sofort, was Lorn spielte. Der Vampir hoffte nur, dass sein Freund wusste, was er da tat – er spürte nämlich, wie sich eine dunkle Gewitterwolke der Feindseligkeit über ihm und Lorn zusammenbraute.
»Niemand nennt mich einen Feigling, Jagam!« Ein hünenhafter Mann stapfte mit schweren Schritten nach vorn und baute sich wie ein Bär vor Lorn auf. »Ich werde an Eurer Seite kämpfen!«
» Du kannst nicht mal richtig laufen, Fugar!«, ertönte es da aus den hinteren Reihen.
Der Schmied klopfte bedeutungsvoll auf seinen rechten Schenkel. Unter dem ledernen Beinkleid zeichnete sich ein dicker Verband ab. »Die Mistkerle haben mein Bein erwischt, nicht meine Arme«, brummte er mürrisch.
»Ihr seid tapfer, Schmied«, sagte Lorn anerkennend und wandte sich wieder den anderen zu. »Einer!«, rief er dann laut und hob den rechten Arm samt lederverhülltem Zeigefinger. »Ist das alles, was Egemunde der Finsternis entgegen wirft? Ein verletzter Mann und zwei Fremde, deren Hilfe ihr euch mit euren Eheringen erkaufen musstet?«
Bürgermeister Flank, der bis dahin still und mit äußerst nachdenklicher Miene auf einem Stuhl in der ersten Reihe gesessen hatte, erhob sich mit nunmehr zornesrotem Gesicht.
»In meiner Jugend war ich einer der besten Jäger des Dorfes«, schnarrte er ärgerlich und stellte sich neben Fugar. »Ich werde mit Fugar an Eurer Seite kämpfen, Jagam!«
»Ich auch!« Ein junger Bursche sprang von einem Tisch neben dem Halbkreis und bahnte sich einen Weg durch die versammelten Dörfler; über der Schulter trug er einen langen Eschenbogen und einen Köcher mit Pfeilen.
»Zwei Söldner, ein Verletzter, ein alter Haudegen und ein Jüngling?« Lorns Stimme troff vor Hohn. »Wahrlich, eine Meisterleistung!«
Das allgegenwärtige Murren schwoll zu einem misstönenden Crescendo an. Diesmal bahnten sich gleich sieben Männer einen Weg nach vorn, begleitet von erregten Jubelrufen und Pfiffen ihrer Freunde, Verwandten und Nachbarn.
»Hütet Eure Zunge, Jagam!«, knurrte einer der Männer und rempelte Lorn im Vorbeigehen rüde mit der Schulter an.
Lorn grinste freudlos und schaute die Menge herausfordernd an. »Ein paar von Euch haben also doch so etwas wie ein Rückgrat.« Im Schankraum hätte man eine Stecknadel fallen hören können. »Schade nur, dass das nicht genügen wird!«, donnerte der Nachtjäger plötzlich in diese Stille hinein. »Nicht, um mich zu überzeugen, es nicht doch nur mit feigen Waschweibern zu tun zu haben! Und erst recht nicht, um Eure Kinder und Enkel zu retten!«
Das war's. Visco fragte sich gerade, ob Lorn es nun nicht endgültig übertrieben hatte, als abermals Bewegung in die Reihen der Egemunder kam: Neun weitere Männer traten ohne ein Wort nach vorn und reihten sich mit entschlossenen Mienen neben Flank, Fugar und den übrigen Freiwilligen ein.
Lauter Jubel brandete ihnen entgegen.
»Egemunde!«, riefen die Dörfler wie aus einem Mund, während die Männer neben Visco und Lorn sich feiern ließen, als ob sie sich die Felle der getöteten Wölfe bereits um die Schultern legen könnten.
Lorn und Visco verließen in den nächsten Minuten unauffällig die Szene und traten vor das Gasthaus. Sollten die Egemunder ihren Gemeinschaftssinn stärken und sich gewissermaßen Mut antrinken.
Sie würden in wenigen Stunden jedes Fitzelchen davon brauchen, um zu überleben.
*
»Haben wir eine Chance?«, fragte Visco irgendwann.
Lorn und der Vampir hatten bis dahin schweigend vor dem Gockel gestanden und dabei zugesehen, wie die Dunkelheit der Nacht genüsslich den letzten schwachen Lichtschimmer des Tages verzehrte.
Visco musste nicht hinsehen, um Lorn unter seiner dornigen Panzerung mit den Schultern zucken zu sehen.
5.
Das Leichentuch der Nacht lag schwer auf der Welt und schluckte selbst den leisesten Eulenschrei. Fahle Nebelfinger krochen wie räudige Hunde aus dem Wald und schwebten langsam in Richtung Palisade, wo Nebel und Feuchtigkeit sich als kalter Raureif der Furcht auf den Herzen der Männer niederließen, die auf Egemundes hölzernem Wall standen.
Dort stand auch Visco DeRául auf der kastenförmigen Plattform über dem Tor und spähte in die Nacht. Wenn er gelegentlich einen flüchtigen Blick
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