Der Preis des Lebens
südlich gelegenen Caravisara jenseits der großen Sandmeere zuletzt Werwölfe gejagt: ein von einem eifersüchtigen Hexenmeister verfluchtes Liebespaar, das tagsüber irgendwo in einer stillgelegten Goldmiene oder einer gut verborgenen Sandhöhle hauste und in der Dunkelheit aus der Wüste kam. Des Nachts pirschten die Wölfe sich mit dem Heulen des Ostwinds und dem Bellen der Schakale an und kletterten an einer geeigneten Stelle über die Mauer, um sich unter den Bürgern, Sklaven, Händlern, Reisenden und Bettlern ihre Opfer zu suchen. Sie folgten ihrer nunmehr unheiligen Natur, hofften in ihrem Inneren wohl zugleich aber auch, dass die Furcht der Menschen von Caravisara den Zauberer in seinem hohen, schlanken Elfenbeinturm dazu drängen würde, den Fluch von ihnen zu nehmen, damit der Blutzoll, den die Verliebten in Wolfsgestalt der Stadt Nacht für Nacht abnahmen, endete.
Lorn hatte das Paar nach vier erfolglosen Nächten in einem verwinkelten Innenhof zur Strecke gebracht. Allerdings hatten ihm damals auch zwanzig abgebrühte, kampferprobte Veteranen aus der Leibgarde des Kalifen zur Verfügung gestanden.
Der Blick des Jägers strich missmutig über die Männer, die neben ihm hinter den Fässern kauerten und mit zitternden Fingern ihre Bogensehnen einhängten oder hie und da noch eine letzte Fackel entzündeten und in den Lehmboden steckten. Der Jagam seufzte frustriert. Flank und der Rest der kleinen Schar aus Schweinehirten, Bauern und Holzfäller waren nicht einmal würdig, den Männern des Kalifen die Stiefel zu lecken.
Dennoch lag Lorns Leben zum Teil in ihren Händen.
Der Nachtjäger versuchte sich von diesem Gedanken abzulenken, indem er nochmals ihre Verteidigung durchging – Lorn ging nicht so weit, es Taktik zu nennen.
Der Wall um das Dorf war zu groß, um ihn flächendeckend zu bewachen. Sie konnten nur hoffen, dass die Wölfe in ihrer Gier hauptsächlich frontal die dem Waldrand zugewandte Seite der Palisade angreifen würden, wo Visco und knapp vierzig Männer ihr Bestes geben mussten, die Biester abzuwehren.
Waren die Wölfe dann erst einmal im Dorf, musste alles möglichst schnell und effizient von Statten gehen. Sie würden nicht viel Zeit und noch weniger Gelegenheiten haben – das Überraschungsmoment würde schnell verfliegen, die zweite Pfeilsalve vielleicht schon nicht mehr die erhoffte Wirkung erzielen.
Lorns Blick huschte noch einmal über die Dörfler. Manche starrten ins Nichts, andere auf das Tor und dessen neuen Riegel, wiederum andere murmelten ein Gebet. Der junge Bursche, der im Gockel so rasch nach vorn gekommen war und nun neben Lorn kauerte, klapperte sogar leise mit den Zähnen. Wahrscheinlich wollte er am liebsten in Richtung Gasthaus rennen, wo die Frauen, Kinder und Alten mit ein paar wenigen bewaffneten Jünglingen im verbarrikadierten Keller zurückgeblieben waren und mit Viscos Freund dem Priester beteten. Lorn legte dem jungen Mann eine behandschuhte Hand auf die Schulter. »Ruhig«, sagte der Jagam leise und nahm ihm Pfeil und Bogen ab. Das Geschoss wäre ohnehin verschwendet gewesen oder hätte im schlechtesten Fall einen Schützen auf der anderen Seite getroffen, so wie der Kerl zitterte.
Der Jagam seufzte. Nicht zum letzten Mal wünschte er sich, Visco wäre hier unten. Doch er brauchte wenigstens einen Mann auf dem Wehrgang, der auch dann die Nerven behielt, wenn es nicht rund und nach Plan lief.
Lorn verlagerte sein Gewicht ein wenig und spannte probehalber den geliehenen Jagdbogen.
Das Heulen war nun so nahe, dass der Nachtjäger verschiedene Tiere heraushören konnte.
Nur ein paar Sekunden später schwappte auch schon eine Sturmflut aus Heulen, Bellen und Knurren gegen den Wall und zerriss die Nebeldecke der Nacht endgültig. Bereits im nächsten Moment hörte Lorn das Kratzen und Schaben langer Krallen auf Holz, ehe mehrere schwere Körper sich von außen auch gegen das unter dem Ansturm erzitternde Tor warfen.
Der Angriff der Werwölfe hatte begonnen.
*
Die Wölfe preschten als grauschwarze Schatten mit rot glühenden Augen auf allen Vieren aus dem Wald. Sie stürmten genau auf die Palisade zu und wurden auch dann nicht langsamer, als ihre lautlosen, weit ausgreifenden Sätze sie bis unmittelbar vor den Wall gebracht hatten oder sie sich aufteilten: eine kleine Gruppe rannte dicht aneinandergedrängt weiter geradewegs auf das Tor zu, während die restlichen Wölfe links und rechts dieser Formation in einer krummen Linie auf den Wall zuhielten.
Dann
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