Der Preis des Lebens
nicht der freundliche Nachtjäger aus der Nachbarschaft, der für das Wohl der Menschen den Kampf mit allen nur erdenklichen Schrecken der Finsternis suchte. Was Lorn wirklich suchte, wusste wohl nur der Jagam selbst; Visco vermutete aber, dass es vor allem mit Rache und Vergeltung zu tun hatte – also einem Weg, der in den meisten aller Fälle ins Verderben führte.
Und trotzdem folgte er dem Jagam seit nunmehr vier Jahren.
Passenderweise war auch der Sichelmond nicht ganz das, was er von außen zu sein schien. Immerhin befand sich die dämmrige Kneipe seit über drei Jahrhunderten im Besitz ein und desselben Wirts . Die Öffentlichkeit glaubte die Mär von einem jüngeren Verwandten, der alle zwanzig Jahre daher kam, um das Familiengewerbe des Bruders oder Onkels weiterzuführen. Eingeweihte wie Visco wussten es besser.
Seit jeher war der Sichelmond ein Stammlokal für Namasks Vampirpopulation. Und auch wenn hier in den letzten Jahren vornehmlich echter Wein serviert wurde, war es in bestimmten Kreisen doch ein offenes Geheimnis, dass Rirca, der unsterbliche Wirt, im hintersten, dunkelsten Winkel seines Kellers auch immer ein Fass frischen Blutweins hatte, für besondere Anlässe weit nach Mitternacht, wenn die Türen des Lokals bereits fest von innen verschlossen waren und man nur nach Aufsagen einer Parole eingelassen wurde.
Warum er ausgerechnet hierher gekommen war, wusste Visco selbst nicht genau. Vielleicht hatte er sich einfach nach Gesellschaft gesehnt und seinen Füßen die Entscheidung überlassen, woraufhin diese sich erinnert und ihn hierher geführt hatten.
Es war eine gute Entscheidung gewesen. Er merkte ja selbst, wie das allgegenwärtige Gemurmel seine Sinne stimulierte und die vertraute Umgebung ihn entspannte. Es war, als würde er dem Rauschen und Wogen des Meeres lauschen, das unermüdlich gegen die finsteren Gestade seiner von Wut und Traurigkeit umwölkten Gedankenwelt schwappte.
»DeRául!« Visco drehte sich nicht um, als sein Name wie ein Schiffsmast zwischen den auf- und abschlagenden Wellen des Gemurmels und Gelächters auftauchte. Er wartete, bis der Neuankömmling ihn passierte und in sein Sichtfeld kam.
»Visco DeRául!« , sagte der Fremde noch einmal.
Visco hob bedächtig den Kopf. Vor seinem Tisch stand ein hagerer, blasser Mann, etwas kleiner als er selbst und mit kurzen Haaren, wie man sie nach der neusten Mode in Namask und in der Hauptstadt trug. Einzig und allein ein abgetragener Umhang aus grüner Wolle schien die klapprige Gestalt zusammenzuhalten.
»Aldair«, grüßte Visco die ausgezehrte Gestalt und nickte knapp in Richtung des freien Stuhls ihm gegenüber. »Setz dich, alter Freund.«
»Freund?« Der Anflug eines versonnenen Lächelns zuckte über Aldairs asketische Züge. »Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, hast du mich böse zusammengeschlagen und mir meine Börse abgenommen, wenn ich mich recht entsinne.«
Es lag kein Groll in diesen Worten.
»Richtig«, erwiderte Visco deshalb leichthin, obwohl er Aldair ohnehin nicht großartig fürchtete. »Wettschulden sind Ehrenschulden, Aldair. Das solltest du in all den Jahren gelernt haben.«
Aldair nickte bekümmert und schmunzelte still in sich hinein, als lausche er einer Pointe, die nur er hören und verstehen konnte. »Was führt dich in die Stadt, DeRául?«, fragte er dann und winkte einem Schankmädchen in der Nähe zu. Als er sich ihrer Aufmerksamkeit sicher war, reckte er zwei Finger in die Höhe und deutete flüchtig auf seinen Bauch.
Wein. Visco wusste, dass die schlanke Vampirfrau zu dieser Stunde für einen entsprechenden Preis durchaus etwas anderes bringen würde, wenn Aldair auf seinen Hals gedeutet hätte.
Der geläuterte Vampir verspürte Erleichterung, als ihn der Gedanke erschreckte und regelrecht mit Abscheu erfüllte.
Er verbarg seine Gefühle hinter einem letzten Schluck aus seinem Krug und meinte dann mundfaul: »Geschäfte.«
Aldair musterte Visco kritisch. Lügner durchschauen ihresgleichen meist ohne große Schwierigkeiten.
»Scheinen nicht gut zu laufen«, bemerkte der schmächtige Vampir mit einem süffisanten Schmunzeln.
Visco zuckte mit den Schultern. Warum zum Teufel hatte er Aldair gebeten, sich zu ihm an den Tisch zu setzen? War es schon so weit, dass er sich nach einem Streit mit Lorn wie eine Hure, die von ihrem Lieblingsfreier abgewiesen worden war, dem Nächstbesten an den Hals warf? Eine schreckliche Vorstellung, sowohl wegen Lorn, als auch wegen Aldair und den Rückschlüssen,
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