Der Priester
wurde aber das Gefühl nicht los, dass ihr das höchstens eine Nacht in einer eiskalten Zelle einbringen würde. Dies war nicht der Moment, um Theater zu machen. Sie hatte mehr als genug gesehen. Ihr Hauptziel musste jetzt sein, so schnell wie möglich ins Büro zu kommen und die Story auf den Weg zu bringen.
»Dann muss ich wohl einfach noch etwas warten«, sagte sie zu dem Sergeant. »Immerhin kann ich dabei ein paar Eindrücke sammeln. Es sei denn, Sie bringen einen von Ihren Leuten dazu, mich zu meinem Wagen zurückzufahren.«
Der Sergeant ließ seinen Blick über die sechs Streifenwagen schweifen, die hinter ihnen am Straßenrand parkten. Die davor stehenden Fahrer starrten gebannt die Bahrenträger an, die ihre Last jetzt hinten in einen Krankenwagen legten. Die Detectives waren schon verschwunden.
»Eine Freundin von Inspector Brogan sind Sie also?«, sagte der Sergeant dann in einem etwas freundlicheren Tonfall. »Was sagten Sie, wo Sie ihn geparkt haben?«
»Ganz hinten an der Hauptstraße«, sagte sie mit einem Seufzer, den sie noch mit einem leichten Flunsch unterstützte. »Ich bin eine halbe Stunde gelaufen, bis ich hier war, weil Ihre Leute ja sämtliche Straßen abgesperrt haben.«
»Ah, natürlich. Aber genau wie Sie haben auch wir nur unsere Arbeit getan. Und soll ich Ihnen noch etwas verraten?«
Sein Lächeln strahlte fast schon wie das eines Heiligen, wodurch sich seine Züge vollkommen veränderten.
»Ja, was denn?« Sie erwiderte das Lächeln.
»Chauffeurdienste für Abschaum wie Sie gehören leider nicht dazu.«
Sie war so verblüfft von dem Knurren in seiner Stimme, dass sie kein Wort mehr herausbekam. Als sie sich endlich wieder so weit gefangen hatte, um eine Antwort zu geben, hielt ihr der Sergeant seine flache Hand vors Gesicht und rief denselben Garda zu sich, der sie hinter dem Baum entdeckt hatte.
»Crilly«, sagte er, »bringen Sie diese verdammte Parasitin zu der Stelle, wo Sie sie gefunden haben, und geben Sie ihr einen Stoß in die Richtung, aus der sie gekommen ist. Dann warten Sie dort und passen auf, dass sie sich nicht zurückschleicht. Denn wenn sie das tut, reiß ich Ihnen beiden den Arsch auf.«
Obwohl Siobhan den Sergeant auf dem kompletten Rückweg zum Wagen verflucht hatte, musste sie hinterher zugeben, dass er ihr das zweitschönste Geschenk an diesem Morgen gemacht hatte. Hätte er sie nämlich nicht gezwungen, durch den feuchten Park zurückzustapfen, hätte sie es gar nicht bemerkt. Obwohl sie hundemüde war und ihre Beine sich wie an die Hüfte geschweißte Bleirohre anfühlten, kam sie gut voran. Die Morgendämmerung linderte die Finsternis, und der rosa Schimmer am Himmel wurde von Minute zu Minute größer. Auf einem kurzen Umweg um eine dicht bewachsene Baumgruppe blieb sie plötzlich wie angewurzelt stehen, als direkt vor ihr ein kleines Rudel braungelber Hirsche aus dem Unterholz kam. Sanft ästen sie die weiß benetzten Halme. Den Atem verschlug ihr dann jedoch das, was hinter dem Rudel zu sehen war: Am Ende der weiten Fläche, die sich von ihrem Standpunkt nach Osten erstreckte, fiel ihr etwas ins Auge, das sie stehen bleiben ließ. Hingerissen sah sie es an.
Vor dem leeren Himmel und der aufgehenden Sonne erhob sich vielleicht einen Kilometer von ihr entfernt das riesige Stahlkreuz, das 1979 zum Besuch von Johannes Paul II . in Irland errichtet worden war. An diesem außergewöhnlichen Tag war auch sie mit ihren Eltern hier im Park gewesen, als mit anderthalb Millionen Menschen fast die Hälfte der Einwohner Irlands aus allen Teilen des Landes hier zusammengekommen war, um mit dem charismatischen Vater der katholischen Kirche unter freiem Himmel die heilige Messe zu feiern. Ihr fielen das Gedränge und die Menschenmassen wieder ein. Sie war damals sechs gewesen und hatte ihr weißes Kommunionskleid getragen, das dieselbe Farbe hatte wie die Robe des Papstes und das Kreuz. Sie erinnerte sich an die flatternden Fahnen und Wimpel und die begeisterten Rufe, als das Papamobil auf verschlungenen Wegen zum Kreuz fuhr, damit ihn alle Gläubigen sehen konnten. Vor allem erinnerte sie sich jedoch daran, wie der Heilige Vater schließlich an den Altar trat und ihr eigener Vater wie verrückt zu jubeln anfing, während er sie mit seinen starken, ausgestreckten Armen hoch über seinen Kopf hielt. Die Begeisterung der Menge hatte sie immer mehr mitgerissen, bis sie sich schließlich wie ein Engel vorgekommen war, der zum Himmel emporstieg.
»Ihr jungen Menschen
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