Der Priester
Irlands, ich liebe euch«, hatte der Papst gesagt, und die ganze Nation hatte ihm zu Füßen gelegen.
Wohin war dieses Gefühl, dieser Geist verschwunden, fragte sie sich. Sie hatte so etwas seitdem nie wieder erlebt. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, dass heutzutage so etwas geschah. Damals war Irland vollkommen anders gewesen. Jetzt war es wie jedes andere Land. Wenn es das Papstkreuz nicht gäbe, würden sich die Leute kaum noch an diesen Tag erinnern. Sie sah es noch einmal an – der weiße Stahl glänzte vor dem tiefschwarzen Himmel und der rotglühend aufgehenden Sonne. Das Kreuz war damals ein Symbol der Hoffnung und des Glaubens gewesen. Heute Morgen kam es ihr jedoch eher vor wie ein schreckliches Zeichen des zornigen, alttestamentarischen Gottes. Wie einen anklagenden Finger streckte es seinen langen, schwarzen Schatten durch den Park, bis hin zu der Leiche und der Garda im Furry Glen.
Ein gespenstisches Bild, das den gespenstischen Umständen entsprach, dachte Siobhan und hatte damit auf Anhieb den Wert der Story für die Regenbogenpresse erkannt.
»Okay, alle zu mir. Das ist wichtig. Los jetzt, nicht einschlafen.«
Um die fünfzig Personen hatten sich in das winzige Einsatzzentrum gequetscht, trotzdem war es sofort ruhig, als Brogan in die Hände klatschte. In ihrem zerknitterten Kostüm und mit den ungekämmten Haaren sah sie aus, als wäre sie die ganze Nacht auf den Beinen gewesen. Ihre Augen waren verquollen, wirkten aber aufmerksam. Sie muss wohl irgendetwas genommen haben, dachte Mulcahy und hoffte, dass es etwas Legales war. Auch Cassidy strotzte vor Energie. Er hielt etwas Zusammengerolltes in der Hand, und seine Miene strahlte seltsam erwartungsvoll.
»Ein paar von euch werden das schon in den Nachrichten gehört haben. Für alle, die bisher nicht wissen, worum es geht, fass ich es noch einmal kurz zusammen: Gestern Abend wurde im Phoenix Park eine Leiche gefunden. Ein Paar, das mit dem Hund spazieren ging – die Details sind jetzt überflüssig –, hat die Überreste eines jungen Mädchens gefunden. Ein Teenager, dessen Leiche in Plastikfolie eingewickelt und im Furry Glen unter einem Abflussrohr versteckt worden war. Heute Morgen hat der Leichenbeschauer den Verdacht bestätigt, dass es sich um unseren Täter handelt.«
Als Cassidy den DIN -A3-Ausdruck ausrollte, den er in der Hand hielt, schnappten viele im Raum nach Luft. Das Bild zeigte die Ruhe und Unbeweglichkeit des Todes. Ein Mädchen, eingewickelt in durchsichtige Plastikfolie, die um den freigelegten Kopf, Oberkörper und Rumpf im Blitzlicht der Kamera schimmerte. Die kastanienbraunen, kräftigen Locken umrahmten ein alabasterweißes, fast engelhaftes Gesicht mit wie im Schlaf geschlossenen Augen – ein Eindruck, bei dem nur der Fleck auf der Stirn störte. Der friedliche Gesichtsausdruck stand in extremem, fast schon unglaubwürdigem Kontrast zu den entsetzlichen Verletzungen, die man ihr auf den sichtbaren Teilen der Brust und den Oberarmen zugefügt hatte. Alle im Raum kannten diese Wunden von Jesica Salazar und Catriona Plunkett – der schreckliche Anblick, der entsteht, wenn weißglühendes Metall auf nackte Haut gepresst wird. In diesem Fall schien der Täter allerdings sogar noch wütender gewesen zu sein. Es war kaum eine Stelle zu sehen, die nicht verrußt, verbrannt oder mit Blasen übersät war. Mulcahy nahm an, dass er nicht der Einzige war, der ein stilles Gebet zum Himmel schickte, dass der Tod schnell eingetreten und das Mädchen so vor dem Schlimmsten bewahrt worden war.
»Wie ihr seht, ermitteln wir jetzt in Sachen Mord.« Brogan machte eine kurze Pause. »Ich wurde um drei Uhr morgens zum Tatort gerufen, um den Verdacht der Mordkommission zu bestätigen, dass unser Mann dafür verantwortlich ist. Ob die exzessive Berichterstattung zu der Eskalation beigetragen hat, bleibt noch festzustellen.«
Empörtes Murmeln brandete auf.
»In Ordnung, schon gut, Ruhe bitte«, sagte Brogan. »Was geschehen ist, ist geschehen, das lässt sich nicht mehr ändern. Damit müssen wir uns abfinden. Der genaue Todeszeitpunkt muss noch bestimmt werden, da die Totenstarre aber voll ausgebildet war, schätzt der Leichenbeschauer, dass der Tod vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden früher eingetreten ist. Das bedeutet, es ist ungefähr zwischen Dienstagmitternacht und Mittwochmitternacht passiert. Wie es aussieht, hat die Tortur des armen Kindes jedoch schon sehr viel früher angefangen. Die beiden entscheidenden
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