Der Priester
Er musste sich vorgekommen sein, als ob sämtliche Weihnachtsfeste seines Lebens auf einen Tag gefallen wären.
»Pass auf, Mulcahy«, unterbrach Siobhan seinen Gedankengang. »Ehrlich, ich hab absolut nichts getan, was dir Schwierigkeiten bereiten könnte. Ich mochte dich, ja? Scheiße, ich mag dich immer noch. Mann, das sieht man doch, oder? An wen denke ich als Erstes, wenn ich eine große, starke Schulter brauche, an der ich mich ausheulen kann?«
Sie sah zur Seite, beugte sich hinunter und hob ihre Tasche vom Boden auf. Ihm fiel plötzlich auf, wie erschöpft sie aussah – und sogar etwas verletzt. Man hörte es auch an ihrer Stimme. Er streckte die Hand aus und stoppte sie, als sie aufstehen wollte, um zu gehen.
»Warte. Was wolltest du mir zeigen?«
Sie schüttelte den Kopf, und ihre langen, weichen Haare wogten wie das dunkle Meer im Winter. »Ist doch egal. Das habe ich mir sowieso nur eingebildet. Ich geh jetzt lieber.«
»Nein, bleib hier«, sagte er. »Lass uns noch einen trinken. Hattest du am Telefon nicht etwas von sechs Drinks gesagt?«
Sie stand trotzdem auf. »Hat doch keinen Sinn. Wenn’s dieses Mal nicht kracht, dann eben beim nächsten Mal. Wir werden nie miteinander klarkommen.«
Erst als sich ihre Tasche beim Hinaufziehen über die Schulter leicht öffnete, sah er es zwischen den Griffen wie ein getrocknetes, helles Lederstück mit schwarzen Flecken darauf, wie ein Stück verbrannter …
»Was um alles in der Welt ist denn das?«, sagte er und deutete darauf.
Vorsichtig untersuchte er das steife Pergamentstück in seiner Hand. Nachdem sie ihm erzählt hatte, wie es in ihren Besitz gekommen war, hatte er es sofort in eine durchsichtige Asservatentüte gesteckt. Trotzdem hatte er den strengen Geruch, den es verströmte, noch tief hinten in der Nase. Die eingebrannten Kreuze sahen genauso aus wie die, die er an den Opfern des Priesters gesehen hatte – sie waren allerdings kleiner.
»Und guck dir das mal an«, flüsterte sie angespannt. Er betrachtete die Stelle, auf die sie gezeigt hatte, und sah erst dann die dünne, in die Haut gebrannte Schrift.
Deus non irridetur.
»Hast du eine Ahnung, was das heißt?«, fragte er, als ihm allein vom Anblick ein Schauder über den Rücken lief.
»Gott lässt sich nicht verspotten«, sagte sie. »Latein. Aus einem der Paulusbriefe an irgendwen. Er warnt seine Herde davor, Böses zu tun.«
Mulcahy musste eine Augenbraue hochgezogen haben, denn sie lachte nervös. »Nein, ich wusste es auch nicht. Beim Warten habe ich eine Kontaktperson angerufen, die ein bisschen Latein kann.«
»Und du hast keine Ahnung, wer dir das geschickt hat?«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Zwischenzeitlich dachte ich, es könnte ein Bekannter von mir sein. Der kommt auch gern mal mit einem lateinischen Spruch daher, und eine Zeitlang dachte ich, er würde zu Hause auf meinem Anrufbeantworter seltsame Nachrichten hinterlassen. Aber dann ist mir aufgefallen, dass es genau die Worte sind, die so ein Irrer letztens zu mir am Telefon gesagt hat.«
Mulcahy zog eine Augenbraue hoch.
»Ja, bevor deine Kollegen diesen Byrne festgenommen haben«, sagte sie und beugte sich über die Asservatentüte in seiner Hand. »Aber guck mal, da, auf der anderen Seite, steht noch was auf Englisch.«
Er sah die Stelle an, auf die sie zeigte. Wieder war es in winziger Schrift ins Pergament gebrannt. Der Leib aber ist nicht für die Hurerei, sondern für den Herrn.
Mulcahy sah Siobhan kurz an und war beeindruckt, wie gefasst sie es nahm.
»Weißt du, ob deine Kollegen beim Herald oder jemand von einer anderen Zeitung auch so etwas bekommen haben?«, fragte er.
»Nicht dass ich wüsste.« Siobhan schüttelte den Kopf.
»Und du weißt auch keinen Grund dafür, dass ausgerechnet du das Ziel für so etwas sein solltest?«
»Meine Güte, woher denn«, sagte sie. »Abgesehen davon, dass ich die verdammte Story an die Öffentlichkeit gebracht und in allen erdenklichen Radio- und Fernsehsendungen in den letzten beiden Wochen stundenlang das Maul über den Priester aufgerissen habe. Ich glaube schon, dass er weiß, wer ich bin.«
In diesem Punkt musste Mulcahy ihr recht geben, trotzdem fand er es nicht nachvollziehbar.
»So richtig kann ich mir das nicht vorstellen«, sagte er. »Irgendwie passt das nicht. Trotzdem handelt es sich um Beweismaterial. Du musst es so schnell wie möglich Brogan oder Lonergan zukommen lassen.«
»Kannst du denen das nicht bringen?«
»Nein, sie müssen
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