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Der Priester

Der Priester

Titel: Der Priester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerard O'Donovan
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Es war derselbe Wichser, der sie vor ein paar Tagen angerufen hatte, aber dieses Mal war es sehr viel angsteinflößender. Er musste den Brief gebracht haben. Was zum Teufel meinte er damit, dass sie Zeugin sein würde? Zeugin wovon?
    Sie zog sich die Jacke fester um die Schultern und sah sich noch einmal um. Ihr ganzer Körper zitterte. Was war, wenn er nicht nur den Umschlag hinterlassen hatte? Niemand hatte ihn gesehen. Was, wenn er auch durch die Sicherheitssperren gekommen war? Hätte sie es gemerkt, wenn er reingekommen wäre? Niemals – sie hatte nicht einmal mitgekriegt, dass der Bote den Umschlag gebracht hatte. Wenn es der Bote denn überhaupt gewesen war. Ach, verdammte Scheiße noch mal.
    Nein, dachte sie und zwang sich, sich zu beruhigen. Sei vernünftig. Sie zog sich kompliziert im Sitzen die Jacke an und begann, die Dateien in ihrem Computer so schnell wie möglich abzuspeichern und zu schließen, dann loggte sie sich aus. »Ich muss hier raus, bevor ich durchdrehe«, sagte sie zu sich selbst, steckte den Umschlag und seinen Inhalt in ihre Tasche und eilte zur Tür. Ungeduldig drückte sie auf den Fahrstuhlknopf, als ihr Handy klingelte. Sie sah sich argwöhnisch um, rechnete immer noch damit, dass sich irgendwo jemand versteckt hatte und sie anstarrte, ihr folgte und sie nicht aus den Augen ließ.
    Wieder zirpte ihr Handy, und sie ging ran, hörte erst nichts, dann ein Knistern und Zischen in der Leitung. Vollkommen verschreckt wollte sie schon wieder auflegen, doch da ertönte die raue, tonlose Stimme wieder: »Gott lässt sich nicht verspotten.«
    Als sich die Fahrstuhltür öffnete, wäre sie vor Angst fast gestorben.

17
    »Mulcahy? Bist du das?«
    Er erkannte ihre Stimme sofort, obwohl sie sehr zittrig klang.
    »Ja, natürlich«, sagte er und versuchte, die leichte Skepsis in seiner Stimme zu unterdrücken. Einen Moment lang hörte er am anderen Ende der Leitung nur ein langes Ausatmen. »Alles in Ordnung, Siobhan? Ist irgendwas?«
    »Nein, schon okay. Es geht schon wieder.« Sie lachte, allerdings nicht sehr herzlich. »Ich habe nur plötzlich Schiss gekriegt, weiter nichts. Ich weiß nicht mal, warum ich dich angerufen habe. Ich bin wohl in Panik geraten. Ich habe auf den Fahrstuhl gewartet, und als die Tür aufging, habe ich nur diese gähnende Leere gesehen. Da ist mir das Herz in die Hose gerutscht. Ich dachte, gleich springt jemand raus und bringt mich um, dabei war nur das Licht darin kaputt. Ich hab’s dann jedenfalls nicht draufankommen lassen und bin gerade auf dem Weg die Treppe runter.«
    Wie zur Bestätigung hörte er durchs Telefon das Klackern von Absätzen auf einem harten Boden.
    »Du bist noch bei der Arbeit?«
    »Ich geh gerade. Wo bist du?«
    »Im Wagen. Kurz vor dem College Green auf dem Heimweg.« Er blickte zur hell erleuchteten Fassade des Trinity College hinauf, dessen elegante Kurve auf der anderen Straßenseite von der lang geschwungenen, dunklen Kolonnade der alten Bank of Ireland widergespiegelt wurde.
    »Das ist ja gleich hier um die Ecke.«
    »Du klingst, als könntest du einen Drink vertragen.« Er hörte, wie seine Stimme dabei kurz stockte. Sie musste ihn für einen Idioten halten. Sie hatte ihm doch mehr oder weniger ins Gesicht gesagt, dass sie ihn nur versehentlich angerufen hatte.
    »Soll das ein Witz sein?«, sagte sie. »Ich brauche ungefähr sechs, damit ich aufhöre zu zittern.«
    Sie konnten entweder in den Palace gehen oder in den Mulligans, also entschieden sie sich für Letzteren, vor allem deshalb, weil er in der Poolbeg Street und damit fast direkt neben dem Herald lag. Siobhan konnte höchstens ein bis zwei Minuten vor ihm angekommen sein, aber als er den dusteren, gut gefüllten Pub betrat, fand er sie in der sich lautstark unterhaltenden Menge auf Anhieb nicht. Erst als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte er sie ganz allein weit weg vom Tresen, in einer dunklen Ecke. Sie hatte zwei volle Gläser vor sich stehen.
    »Ich hab dir eins mitgebracht«, sagte sie trocken, als er sich ihr gegenübersetzte, obwohl in der Ecke neben ihr viel Platz war. Das Stimmengewirr umhüllte sie und bot ihnen eine gewisse Abgeschiedenheit.
    »Danke«, sagte er und nahm einen Schluck aus seinem Glas. Jetzt, wo sie so vor ihm saß, wusste er nicht recht, was er sagen sollte. »Eben am Telefon klangst du ziemlich verängstigt.«
    »War ich auch ein bisschen«, sagte sie, ohne ihm in die Augen zu sehen. »Na ja, es hat mir einen ziemlichen

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