Der Priester
es sofort sehen. Und ich bin ab morgen ein paar Tage weg.«
»Weg? Wohin weg?«, fauchte sie, als hätte sie das Recht, es zu erfahren.
»Frag nicht.«
»Herr im Himmel«, sagte sie verzweifelt. »Ich hab mal wieder vergessen, dass jeder verdammte Scheiß bei dir streng geheim ist. Trotzdem muss ich erst noch ein paar Fotos und so weiter machen. Für meine Story.«
»Was willst du?«, fragte er entsetzt. »Das könnten wichtige Beweise sein. So etwas kannst du nicht einfach auf die Titelseite klatschen.«
»Wieso nicht? Auf der Titelseite würde es sich verdammt gut machen.«
Mulcahy starrte sie verständnislos an. »Hör zu, wir haben noch keine Ahnung, ob es vielleicht nur ein schlechter Witz ist oder so, aber wenn du das in deiner Zeitung groß herausstellst und dann alle irgendeinem Phantom hinterherjagen müssen, könnte das die komplette Ermittlung ins Chaos stürzen.«
»Schon möglich. Du hast leicht reden. Ich habe Tag für Tag mit Irren und Idioten zu tun, und das hier hat mir so richtig Angst eingejagt. Wie du weißt, wurde Emmet Byrne heute Morgen festgenommen. Dieses Ding wurde bei uns in der Zeitung heute Abend zwischen sieben und halb acht persönlich abgegeben. Was ist, wenn ihr den Falschen erwischt habt? Was ist, wenn er jetzt hinter mir her ist?«
»Hör zu, ich glaube wirklich nicht, dass du dir Sorgen machen musst. Nach allem, was uns bekannt ist, bist du nicht sein Typ«, sagte Mulcahy. Während er das sagte, wurde sein Blick jedoch von dem kleinen Silberkreuz angezogen, das zwischen den Knöpfen ihrer Bluse glitzerte. »Trotzdem muss man dem so schnell wie möglich nachgehen. Ruf Brogan an, damit die die Sache verfolgen können.«
Siobhan richtete sich auf und starrte ihn an, als hätte sie seine Gedanken gelesen.
»Du glaubst überhaupt nicht, dass es Byrne war, oder?«
Die Antwort auf diese Frage kannte er selbst nicht. »Nach allem, was ich gehört habe, haben wir sehr viele Beweise gegen ihn.«
»Klar«, schnaubte sie. »Das hab ich auch gedacht, bis dieser Verrückte mir ein angesengtes Stück Haut geschickt hat.« Sie sah über die Schulter, bevor sie leise fortfuhr: »Weißt du, ich habe heute Nachmittag einen alten Mann interviewt, der Byrne seit Jahren kennt. Der schwört, dass er ein Heiliger ist.«
»Jeder Mensch hat Freunde, Siobhan. Selbst Mörder und Vergewaltiger kriegen vor Gericht gute Leumundszeugnisse.«
»Ja, also gut, ich habe vorhin eine E-Mail von einer Psychologin gekriegt, mit der ich befreundet bin. Sie meint, all diese Angriffe hätten das Kennzeichen eines sogenannten Wut/Vergeltungs-Vergewaltigers. Sie sagt, die Brutalität deute auf verdrängte Aggression hin. Typisch für den Täter sei eine ›wachsende, unkontrollierbare Wut‹. Die Ursache dafür könnte alles Mögliche sein, es müsste auch nicht notwendigerweise ein Zusammenhang zur Tat selbst bestehen. Vielleicht ein schweres Trauma in der Kindheit oder sonst irgendetwas. Aber der Auslöser und die Zielrichtung der Aggression sind fast immer gleich. Was mich stutzig macht, ist, dass die meisten Leute, mit denen ich gesprochen habe, Emmet für einen ganz normalen Kerl halten. Ein bisschen schwer von Kapee, aber immer nett und freundlich. Definitiv nicht der Typ, der erst alles in sich reinfrisst, bis es schließlich aus ihm herausbricht.«
Mulcahy hörte das meiste kaum. Er war bei der »Wut/Vergeltungs«-Sache hängen geblieben. Ihm war plötzlich klar geworden, was ihn störte, seit er in Palmerston Park gewesen war. Es waren Jesica Salazars geflüsterte Worte »Como un cura« . Rinns aufrechte Haltung, das überhebliche Verhalten und seine altmodische Kleidung. Wie ein geschlechtsloser Mann. Rinn erinnerte ihn an ein oder zwei Priester, die er als Kind gekannt hatte. So steif, so verkrampft, so randvoll von verdrängter Wut, dass man sie fast riechen konnte. Die hatte er ausgestrahlt, als Mulcahy sich die Bilder an den Wänden in seinem Wohnzimmer angeguckt hatte – Wut, nicht nur eine gewisse Anspannung.
Als er aufblickte, starrte Siobhan ihn genauso an, wie es der Barkeeper im Long Hall getan hatte. Als ob er den Verstand verloren hätte.
»Ist alles okay, Mulcahy?«
»Ja, klar … Entschuldigung«, sagte er und versuchte, seine Gedanken wieder zu ordnen. »Ich hab nur nachgedacht … Also, die Kollegen im Mordermittlungsteam wissen das doch wahrscheinlich auch alles. Ich meine, Brogan hat alle möglichen Kurse besucht, die kennt sich doch mit diesem psychologischen Zeugs
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