Der Priester
zusammenzuführen, jedes noch so kleine Informationshäppchen irgendwie zu verarbeiten. Der Artikel war nicht für diesen Sonntag, sondern vielleicht für nächste Woche – Nachrichten lebten vom Neuigkeitswert, und diese Woche interessierten sich die Leute für Byrnes Festnahme und seine undurchsichtige Vergangenheit. Die Vorbehalte, die sie gegen die Festnahme hatte, konnte sie sich noch etwas aufsparen. Schließlich war er noch nicht einmal angeklagt worden. In ein paar Tagen würde ihr Artikel noch größeres Aufsehen erregen – für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Jungs in Blau Byrne wirklich etwas anhängen wollten. Ein Ping! meldete eine eingehende E-Mail. Siobhan klickte darauf und las die Antwort auf ihre Anfrage an eine befreundete Psychologin. Sie war so sehr ins Lesen vertieft, dass sie nur kurz grunzte, als jemand hereinkam und etwas neben ihr auf den Schreibtisch legte. Erst gut zehn Minuten später, kurz nach acht Uhr abends, nachdem sie die Antwort gelesen und daraufhin einen weiteren Fragenkatalog zurückgeschickt hatte, riss sie den Blick vom Bildschirm los und sah den gefütterten Umschlag neben ihrem Ellbogen, auf dem nur ihr Name stand. Sie riss ihn auf und wollte hineingreifen, merkte aber, dass irgendetwas daran nicht stimmte. Dann schlug ihr der Geruch entgegen, und sie jaulte auf wie ein getretener Hund und ließ alles auf den Schreibtisch fallen. Zitternd sah sie etwas, das sie erst für ein zusammengefaltetes Stück Papier hielt, das ein paar Zentimeter aus dem Umschlag herausgerutscht war. Es fühlte sich aber nicht an wie Papier. Es war kalt, hart und etwas schmierig – und stank furchtbar. Wie verbrannte Haut oder so etwas … oh, um Himmels willen!
Sie nahm einen Bleistift, steckte ihn in den Umschlag und schaute, ob noch mehr darin war. Etwas Gefährliches. Sie sah aber nur das zusammengefaltete Papier. Sie holte tief Luft, zog es weiter heraus, und dann fiel ein dickes Blatt Pergament heraus, gelblich und etwas durchscheinend. Es war rau und biegsam, ein bisschen hautartig. Ein eiskalter Schauder lief ihr dann über den Rücken, als sie sah, dass es mit jeder Menge Kreuze in verschiedenen Größen versengt war, manche tiefschwarz, einige ganz durchgebrannt, so dass nur noch schwarze x-förmige Löcher mit verkohlten Rändern zu sehen waren.
Sie griff zum Telefon, rief die Rezeption an und fragte, wer den Brief gebracht hatte. Die Frau unten sagte, sie glaube, er sei vor etwa einer Stunde unten abgegeben worden, allerdings hatte niemand gesehen, von wem. Er hatte plötzlich da gelegen – wahrscheinlich war einfach jemand von der Straße hereingekommen und hatte ihn auf den Empfangstresen gelegt. Siobhan rief den Wachdienst an, wo man ihr allerdings mitteilte, dass die Überwachungskamera über der Rezeption seit gut einer Woche defekt wäre und sie seitdem auf den Reparaturservice warteten. Sie fluchte, war allerdings nicht besonders überrascht – die technische Ausrüstung beim Sunday Herald war einfach schäbig. Sie setzte sich, drückte mit dem Bleistift weiter auf dem Pergament herum, sah es sich dabei genauer an und versuchte herauszubekommen, von wem es sein könnte. Sollte es eine Art Witz sein? Es gab beim Herald ein paar Scherzbolde, denen sie so etwas durchaus zutraute.
Dann sah sie noch etwas anderes zwischen den Rillen und Löchern: Ein paar Worte schienen in das Gewebe eintätowiert worden zu sein – oder eingebrannt mit einer viel feineren … einer feineren was? Aber darüber dachte sie nicht weiter nach, als sie die Worte gelesen hatte. Plötzlich war ihr kalt, und ihre Hände zitterten. Sie sah über die Bildschirme und suchte nach Griffin, Heffernan oder einem der anderen Kollegen. Dabei wusste sie genau, dass keiner mehr da war. Es war zu spät. Selbst die Jungs in der Sportredaktion hatten für heute Schluss gemacht. Sie war ganz allein, und schlagartig wurde ihr bewusst, wie bedrohlich, dunkel und leer die Nachrichtenredaktion – die ganze Etage – war. Genau in diesem Moment klingelte ihr Telefon, und sie griff hastig danach, froh darüber, eine andere Stimme zu hören.
»Hallo«, sagte sie. Dann wiederholte sie es. Sie bekam jedoch keine Antwort, nur ein schwaches Zischen am anderen Ende der Leitung. »Ist da jemand?«
»Gott lässt sich nicht verspotten«, sagte eine Männerstimme zornig, laut und schwer atmend. »Sie werden es sehen. Sie werden Zeugin davon sein.«
Dann war die Leitung wieder tot, und Siobhan legte fluchend den Hörer auf.
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