Der Priester
Stimme von dem Schrecken, den sie gerade noch einmal durchlebt hatte. »Ich höre nichts außer dem Schmerz in meinem Kopf. Bin ich tot? Nein, ich höre, wie er sich bewegt, um mich herumkriecht wie eine Schlange, wie eine … aaaah.« Luft strömte aus Jesicas Lunge, als wäre sie wieder geschlagen worden, und ihre Hände schnellten zum Hals hinauf, als würde sie jemand würgen. »Nein, nein, Mama, nein, er darf mir nicht wehtun …«
Mulcahy musste den Blick abwenden. Er ertrug den Schmerz und die Angst nicht, die sich in ihrer Miene abzeichneten, all die nervösen Zuckungen und den Schrecken, als sie den Kampf noch einmal durchlebte. Sie erzählte, wie die Halskette nachgab, dann riss, wie sie wieder Luft bekam und lange, keuchende Atemzüge ihre Lunge erfüllten … Offenbar musste sie einen Moment lang ohnmächtig gewesen sein, weil sie nur beschreiben konnte, wie sie ganz entfernt wahrgenommen hatte, dass sie geschändet wurde, als grobschlächtige Finger ihre Oberschenkel auseinandergedrückt und ihre Kleidung zerschnitten hatten, bis sie schließlich angefangen hatte, sich zu wehren und allmählich immer heftiger gestrampelt hatte, worauf der Sack von ihrem Gesicht gerutscht war und …
Mulcahy sah Jesicas Gesicht sofort erwartungsvoll an und prüfte dann aus den Augenwinkeln, ob Dr. Mendizabal sie jetzt nicht unterbrach.
»Er beugt sich über mich, und ich kann wieder frei atmen, spüre die Luft in meinem Gesicht und höre auch … ja, ich höre, dass er ein Gebet spricht: ›Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiligt werde Dein Name …‹ Er betet, starrt dabei auf mich hinab und bekreuzigt sich … wie ein Priester. Und er hält ein brennendes Schwert in der Hand, es glüht rot, so heiß ist es. Er betet über mir, betet und berührt mich mit dem Kreuz …« Das Mädchen schnappte nach Luft, ihr Körper erstarrte und schnellte dabei an der Hüfte wie ein Klappmesser nach oben. Sie stieß ein tiefes, schreckliches Stöhnen aus.
Mulcahy sah die Besorgnis im Gesicht der Psychiaterin, hörte, wie sie versuchte, das Mädchen zu beruhigen, und fragte, ob sie zurückkommen wolle. Doch Mulcahy konnte das einfach nicht zulassen, nicht jetzt, wo sie so nah dran waren.
»Beschreib uns sein Gesicht, Jesica. Erzähl uns, wie sein Gesicht aussieht«, flehte er.
Er sah einen Anflug von Panik im Gesicht der Psychiaterin, gefolgt von Wut. Sie warf ihm einen bösen Blick zu, damit er aufhörte. Sie unterbrach Jesica aber nicht, da sie, die brave Jesica, schon angefangen hatte zu antworten.
»Kein Priester«, japste sie durch zusammengepresste Zähne, als ihr die Gesichtszüge vor Angst und Verwirrung entglitten und der Körper wie besessen zuckte. »Ein Teufel«, keuchte sie, als hätte sie etwas aus tiefster Seele heraufgeholt. »Er hat ein Teufelsgesicht, dünn und rot … die Augen brennen wie Feuer, und die Flammen der Hölle züngeln darunter … um sein Gesicht, auf seiner Haut. Alles lodert!«
Jesica zitterte jetzt vor Angst am ganzen Körper, und Dr. Mendizabal winkte energisch mit den Händen und forderte Mulcahy auf, ruhig zu sein.
»Das reicht«, sagte sie. »Es ist genug, Jesica, es war gut, sehr gut. Jetzt entspann dich wieder. Es war gut, du musst keine Angst haben. Atme tief durch …«
Als die Psychiaterin wieder zu Mulcahy hinübersah, lag in ihrem Blick kein Zorn mehr, sondern Erleichterung, und die überkam auch ihn, als ihm bewusst wurde, was das Mädchen gesagt hatte. Offenbar erkannte man das auch in seiner Miene, denn Dr. Mendizabal sah ihn jetzt mit fragendem Blick an, als wollte sie sagen: Ist alles in Ordnung?
»Nur eine Frage noch?«, fragte er tonlos. »Eine einfache. Versprochen. Die letzte.«
Sie erwiderte ebenso tonlos, aber mit strengem Blick: »Einfach?«
Er nickte.
»Gut«, sagte sie dann. »Jesica, du machst das sehr gut, ganz großartig. Der Inspector wird dir jetzt noch eine Frage stellen, dann ist es Zeit, dass du zu uns zurückkommst.«
Das Mädchen nickte fast unmerklich.
»Jesica«, sagte er, so sanft er konnte, »diese Flammen, die an diesem Mann, an diesem Teufel, gezüngelt haben, waren die auch in seinem Gesicht oder nur an seinem Hals?«
Mulcahy kannte die Antwort schon. Aber er wollte sie aus Jesicas Mund hören. Damit er ihr hinterher sagen konnte, dass sie – nur sie allein – die letzten vorhandenen Zweifel daran hatte zerstreuen können, wer ihr diese Schmerzen zugefügt hatte.
Mulcahy merkte gar nicht, dass er vor Erregung zitterte, bis er das
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