Der Priester
Zeigefinger schnellte weiter nach oben, als er bisher gewesen war.
»Nein … nein!«, stöhnte sie mit brüchiger, verängstigter Stimme.
Weil er wusste, dass dies das Resultat der ersten Begegnung mit dem Angreifer sein musste, sah Mulcahy Dr. Mendizabal an, die auch ziemlich besorgt wirkte. Die Psychiaterin sagte zu Jesica, sie solle sich entspannen, ruhig bleiben, ihr würde hier nichts passieren, und das Mädchen hörte auf sie und beruhigte sich etwas. Dann forderte die Psychiaterin Jesica auf, keine Angst zu haben, sich umzusehen und zu beschreiben, was sie sah und spürte. Jesica fing wieder an zu erzählen. Als sie die Mauer hinter sich hatte, war ein Auto an ihr vorbeigefahren und hatte vor ihr angehalten. Mulcahy spürte die Anspannung schon, doch Jesica verstummte einen Moment lang, schob das Kinn etwas vor, als würde sie noch einmal genauer hinsehen, und sagte schließlich: »Nein, kein Auto, ein Lieferwagen.«
»Welche Farbe hat er?«, fragte Mulcahy, der gar nicht mit einer Antwort rechnete, aber dennoch eine bekam.
»Weiß«, sagte das Mädchen.
»Bist du sicher?«
»Ja.« Sie nickte energisch. »Er war weiß mit schwarzen Fenstern im Heck, auf denen sich die Straßenlaternen von gegenüber orange spiegelten.«
Mulcahy spürte, wie eine gewisse Erleichterung seinen Körper durchflutete, weil Byrne damit wieder zum Hauptverdächtigen wurde. Dann erinnerte er sich an ihre anfängliche Klarheit, und er überlegte, ob sie sogar noch genauere Angaben machen konnte – womöglich die Automarke oder sogar das Kennzeichen kannte.
»Ist eine Schrift auf dem Lieferwagen? Hinten oder an der Seite?«
»Nein«, sagte sie bestimmt. »Oben auf dem Dach ist ein Schild. Quer rüber. Aber es ist zu dunkel, ich kann es nicht lesen.«
Die Erleichterung war schlagartig verschwunden und wurde durch Konfusion ersetzt. Bei Byrnes Lieferwagen war nichts auf dem Dach. Aber etwas anderes machte ihm wieder zu schaffen, nagte in seinem Hirn, bis die Erinnerung so massiv über ihn hineinbrach, dass er fast schon körperlich darunter zusammensackte: Er sah vor sich, wie Martinez ihn am Flugplatz von der Straße zurückriss. Das Taxi! Warum hatte er nicht früher daran gedacht? Ein Kleinbus – ein Großraumtaxi. Was war, wenn Rinn sein falsches Taxischild auf einem Kleinbus montiert hatte? Er dachte verzweifelt darüber nach, was für ein Fahrzeug bei Rinns Verkehrsübertretung erwähnt worden war, kam aber nicht darauf. Er wollte dazwischengehen und Jesica weitere Fragen über das Schild stellen, doch Dr. Mendizabal bedeutete ihm zu warten und zeigte auf die Augen des Mädchens, die sich jetzt unter den fest geschlossenen Lidern wie Murmeln bewegten.
Plötzlich warf Jesica den Kopf in den Nacken, und ihre Schultern schnellten fast zehn Zentimeter hoch, als hätte ihr jemand ins Gesicht geschlagen.
»Er hat mich geschlagen, er hat mich geschlagen«, keuchte sie. Mulcahy kannte diese Worte aus der ersten Vernehmung. Ihre Unterlippe zitterte, und Tränen quollen aus ihren geschlossenen Augen. Doch die Psychiaterin brach die Hypnose noch nicht ab. Stattdessen sagte sie Jesica wieder langsam und ruhig, dass sie sich entspannen solle, dass sie sich selbst aus der Szene entfernen, sich darüber erheben und darauf hinabblicken solle. Das Mädchen nickte nur kurz und fuhr dann fort.
»Er schlägt mich«, sagte Jesica, jetzt mit abwesenderer Stimme. »Es ist dunkel, er hat mir etwas über den Kopf gestülpt, was so unangenehm riecht, dass ich würge. Ich krieg keine Luft, er schlägt mich wieder.«
Mulcahy versetzte sich in Jesica hinein, als sie erzählte, wie sie im Dunkeln gefallen war und in den Beinen und am Hinterkopf einen stechenden Schmerz verspürte, als sie in den Lieferwagen gestoßen wurde. Er erinnerte sich jetzt wieder, dass sie im Krankenhauszimmer gesagt hatte, der Angreifer hätte etwas über sie geworfen. Damit wollte er ihr offenbar die Augen verdecken, damit sie ihn nicht richtig sah. Aber das konnte nicht stimmen. Sie hatte gesagt, dass er sich bekreuzigt hatte. »Wie ein Priester.« Es war eine so lebhafte und anschauliche Beschreibung gewesen. Sie musste ihn gesehen haben.
»Das Bekreuzigen, Jesica«, flüsterte Mulcahy. »Du hast gesagt, er hätte sich …«
Er wollte die Frage stellen, als Dr. Mendizabal ihm die Hand vors Gesicht hielt und ihn besorgt ansah. Dann deutete sie auf den Zeigefinger des Mädchens. Er pendelte langsam auf und ab.
»Es hat aufgehört«, sagte das Mädchen mit zitternder
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