Der Priester
erzählte sie ihr, dass sie keine Angst haben müsse und zwei Stimmen ihr Fragen stellen würden – ihre und die von Señor Inspector Mulcahy. Und dass sie immer dann den Zeigefinger heben solle, wenn etwas zur Sprache kam, bei dem die Erinnerung zu schlimm war.
Mulcahy hatte mit Dr. Mendizabal vorher ein paar Stichworte und Fragen abgesprochen und sie aufgeschrieben. Diese Liste, die sie noch mit ein paar Notizen versehen hatte, lag jetzt vor ihr. Mulcahy merkte, dass ihre Herangehensweise sich gar nicht so sehr von seiner Verhörtechnik unterschied. Zur Einführung stellte sie Jesica ein paar einfache Fragen: über die Reise nach Irland, wie ihr die Schule gefallen hatte und wer ihre Freunde gewesen waren. In dieser Phase konzentrierte Dr. Mendizabal sich ausschließlich auf positive Erlebnisse und mied alles, bei dem Jesica sich unwohl fühlen könnte. Mulcahy war überrascht, wie bewegt und ausdrucksstark die Gesichtszüge des Mädchens dabei waren – das sah man bei Menschen im Wachzustand eigentlich nie. Die Muskeln erzeugten ein verstohlenes Lächeln, konzentriertes Stirnrunzeln oder Zuckungen, die ihre Gefühle und Gedankengänge ganz direkt widerzuspiegeln schienen. Sie sprach fast immer mit der tonlosen, nasalen Stimme, die ihn an die wenigen Gelegenheiten erinnerte, als er Gracia im Schlaf hatte reden hören.
Langsam lenkte die Psychiaterin die lächelnde Jesica von ihren Freunden zum Tanzen. Erst zum Tanzen mit Freunden in Clubs, dann zum Tanzen mit Jungs und schließlich zum Tanzen in Dublin am fraglichen Abend. Wieder fiel Mulcahy auf, dass Dr. Mendizabal nie etwas Verstörendes wie »am Abend vor dem Überfall« oder auch nur »in dieser Nacht« oder sonst irgendetwas sagte, das einen Hinweis auf Jesicas späteres Martyrium gab. So hatte Mulcahy das Gefühl, fast jeden Augenblick mit ihr zu erleben, als sie den Club beschrieb, die Lichter, die Musik. Ein zufriedenes Grinsen umspielte ihre Lippen, als sie erzählte, wie ein Junge, blond und attraktiv »wie Beck-ham«, selbstsicher auf sie zugekommen war und sie angesprochen hatte, worauf sie sich von ihren Freunden entfernt hatte.
Mulcahy kannte Patrick Scully nur aus den Videos der Überwachungskameras, trotzdem war er sprachlos von der Klarheit und Genauigkeit von Jesicas Beschreibung. Er fragte sich, ob Menschen unter Hypnose sich immer so klar ausdrückten. Obwohl Scully nicht mehr zu den Verdächtigen zählte, hatte er das Gefühl, dass dieser Verdacht gar nicht erst aufgekommen wäre, wenn sie diese Aussage von Jesica eher gehabt hätten. Aber das war jetzt reine Theorie: Es brachte nichts, verpassten Gelegenheiten nachzutrauern. Nicht jetzt, wo Jesica gerade erzählte, wie glücklich sie war, als Scully ihr vorschlug, dass er sie nach Hause begleiten würde, und in welcher Hochstimmung sie den Club verlassen hatte. Es dauerte jedoch nicht lange, bis sie anfing, sich unwohl zu fühlen, als sie in Stillorgan an der Wand des Einkaufszentrums lehnten und er anfing, sie zu betatschen. Anfangs gefiel es ihr, selbst als er sie da unten berührte, aber dann wurde er immer zudringlicher, was ihr nicht gefiel und was sie ihm auch sagte. Doch dann versuchte er es noch einmal, und sie stieß ihn weg, worauf er wütend wurde.
Wieder fielen Mulcahy die lebhaften Veränderungen in Jesicas Miene auf, die Muskeln tanzten förmlich in ihrem Gesicht. Dr. Mendizabal sah ihn an und deutete auf Jesicas rechten Zeigefinger, der jetzt leicht zitterte und sich etwas über dem Niveau der anderen Finger befand. Mulcahy zog eine Augenbraue hoch, aber die Psychiaterin schüttelte den Kopf und deutete mit der flachen Hand an, dass alles in Ordnung sei. Mulcahy merkte, dass sie den Zeigefinger wie die Nadel eines Messgeräts für Jesicas Angstzustand verwendete.
Diese Angst blieb ziemlich stabil, als das Mädchen beschrieb, wie Scully sie hatte stehen lassen, dann nahm sie etwas ab, als gerechter Zorn und Enttäuschung die Oberhand gewannen. Jesica beschrieb, wie sie nach einem Taxi gesucht hatte. Mulcahys Hoffnung flackerte auf, erlosch aber sofort wieder, als sie sagte, dass sie keines gefunden und deshalb beschlossen hätte, zu Fuß zu gehen. Und so erzählte Jesica weiter, wie sie über Straßenkreuzungen ging, Scully verfluchte, an einer Videothek, einem 7-Eleven vorbeikam und dann eine Mauer und Tore passierte, die Mulcahy als die Kilmacud-Grundschule erkannte. Plötzlich erstarrte ihr Körper, ihre Gesichtsmuskulatur verzerrte sich vor Angst und Schmerz, und ihr
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