Der Priester
weitergegangen, als er das Gesuchte nicht gefunden hatte. Cassidy deutete auf den langen Mahagoniesstisch, auf dem jede Menge Papiere lagen. Einer der Stühle war vom Tisch nach hinten geschoben worden, als wäre jemand hastig aufgesprungen und gegangen.
»Ich hab mir gedacht, dass er sich das vielleicht gerade angeguckt hat, als Fallon und ihr Fotograf angekommen sind«, sagte Cassidy. »Von hier kann man sehen, wenn jemand in die Einfahrt kommt.«
Tatsächlich konnte man von diesem Platz durch das große Erkerfenster den größten Teil des Vorgartens, das Einfahrtstor und einen Teil der Garage überblicken. Cassidys Handy klingelte, woraufhin er in den Flur trat. Die einzigen Worte, die Mulcahy noch hörte, lauteten: »Ja, Chef, das stimmt.« Mulcahy ging zum Tisch und versuchte festzustellen, was Rinn dort gemacht hatte. Auf der polierten Oberfläche lagen mehrere Blatt Papier, ein großformatiges Buch und eine Faltkarte vom Phoenix Park. Mulcahy betrachtete die Karte, sah aber nichts Ungewöhnliches. Die meisten Papiere waren Fotokopien. Als er ein paar umdrehte, sah er, dass es Vergrößerungen einzelner Sätze aus religiösen Texten waren. Die aber Christus Jesus angehören, die haben ihr Fleisch gekreuzigt, samt den Leidenschaften und Begierden. (Gal. 5,24) und Darum tötet, was irdisch an euch ist … All das zieht den Zorn Gottes nach sich. (Kol. 3,5–6) Angewidert schob er sie zur Seite und zog das Buch heran. Es war ein Hochglanzbildband zur Erinnerung an den Papstbesuch 1979 in Irland. Auf dem Umschlag war ein Bild, das Mulcahy kannte: ein Porträt von Papst Johannes Paul II . in seiner strahlenden grünen, weißen und goldenen Robe, der seinen Kreuzstab hochhielt. Mulcahy schlug eine Seite des Buchs auf, in der als Lesezeichen ein altes Foto steckte. Auch das Bild auf der großen Doppelseite kannte er: eine von einem Kran aus gemachte Aufnahme der riesigen Menschenmenge, die den großen hochgestellten Altar im Phoenix Park umringte. An hohen Stangen flatterten Fahnen im Wind, und alles wirkte winzig vor dem gigantischen Kreuz im Hintergrund.
Mulcahy sah das Foto an, das als Lesezeichen im Buch lag. Die alten Polaroid-Farben waren schon ziemlich ausgebleicht. Es zeigte eine Gruppe etwa zehnjähriger Jungen und Mädchen, die unbehaglich in die Kamera starrten. Sie sahen aus, als wären sie aus einem Katastrophengebiet dorthin gekarrt worden. Einige saßen in Rollstühlen, andere gingen an Krücken, allen gemeinsam war jedoch, dass sie mindestens ein Körperteil in Gips hatten. Am Rand der Gruppe meinte Mulcahy den jungen Sean Rinn zu erkennen, einen traurig dreinblickenden Jungen mit Bürstenschnitt und krampfhaft zu einem Lächeln hochgezogenen Mundwinkeln. Unter dem weit offen stehenden Hemd und einer Strickjacke war sein ganzer Oberkörper vom Kinn bis zum Gürtel der ordentlich gebügelten Hose in Verbandsmaterial gewickelt. Im Hintergrund sah man die gleiche riesige Menschenmenge vor dem Altar, die auch im Buch abgebildet war. Er drehte das Foto um. Auf die Rückseite hatte jemand geschrieben: Kongregation vom Kostbaren Blut, Phoenix Park, 29. Sept 1979.
Als er hinter sich Schritte hörte, drehte er sich um.
»Brogan ist unterwegs«, sagte Cassidy. »Sie meinte, ein paar von den anderen werden vermutlich eher eintreffen. Sie muss erst aus Tallaght herkommen.«
Mulcahy nickte: »Haben Sie irgendeine Idee, was hinter der Kongregation vom Kostbaren Blut steckt?«
Cassidy blinzelte verständnislos. Mulcahy hielt das Foto hoch, deutete auf Rinn und zeigte ihm dann, was auf der Rückseite stand. »Den Namen hab ich oben auch schon mal auf einem Banner gesehen.«
»Das ist so eine Vereinigung«, sagte Cassidy. »Für Leute, die an Feiertagen und zu bestimmten Jahreszeiten besondere Andachten, Gebete und Messen feiern. Bei der geht es dann wohl darum, des kostbaren Blutes Christi zu gedenken, das Jesus am Kreuz zur Rettung der Menschheit vergossen hat.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich wurde von den Christlichen Brüdern unterrichtet. Bei denen mussten wir den ganzen Kram über Feiertage und Kongregationen auswendig lernen. Haben sie uns eingeprügelt. Wenn ich mich recht erinnere, ist das Fest des kostbaren Blutes nicht an ein festes Datum gebunden, sondern fällt immer auf den ersten Sonntag im Juli. Also jetzt.«
Mulcahy brauchte das Datum auf seiner Uhr nicht zu überprüfen, tat es aber unwillkürlich. »Das ist morgen«, sagte er, und irgendwie fühlte er sich mit diesem Wissen nicht
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