Der Priester
Wind nahm zu, und die Böschung war steiler, als es von unten ausgesehen hatte. Er spürte das kalte, feuchte Gras an seiner Hand, das immer glitschiger wurde, je mehr er versuchte, festen Halt zu finden. Als er sich dem Rand näherte, blickte er nach oben. Die Last und Erhabenheit des aufragenden Stahlkreuzes schienen ihn niederzudrücken. Dann sah er etwas Seltsames. Vor dem Nachthimmel pendelten zwei lange Seilschlaufen im Wind, eine an jedem Balken. Da begriff er, woher das Klirren kam, das er gehört hatte. Aber bevor er verstanden hatte, wozu die Seile dienten, sah er, dass sie sich plötzlich spannten und direkt vor dem Pfahl des Kreuzes ein langes, dunkles Bündel in ruckartigen Bewegungen nach oben wanderte. Als die Wolkendecke noch einmal aufbrach, erleuchtete der Mond wieder die Szene. Und Mulcahys schlimmste Befürchtungen wurden wahr. Über ihm fand eine groteske Kreuzigung statt. Siobhan Fallons nackter, lebloser Körper war an einem primitiven Holzkreuz befestigt, das wiederum mit den Seilen an den Stahlbalken hing. Siobhans Hände und Füße waren blutverschmiert. Unter ihrer rechten Brust lief Blut aus einer horizontalen Wunde auf ihren Bauch. Auf ihrem schlaff herabhängenden Kopf lag etwas, bei dem es sich nur um eine Dornenkrone handeln konnte.
Für den Bruchteil einer Sekunde war Mulcahy von dem Anblick vollkommen gelähmt, und Angst und Erschöpfung drohten die Oberhand zu gewinnen. Aber er hatte keine Zeit zum Überlegen, und etwas – er konnte nicht sagen, ob es seine Ausbildung oder ein innerer Impuls war – zwang ihn, die letzten beiden Meter hochzuklettern und auf die breite Betonplattform zu laufen. Sechs bis sieben Meter vor ihm, an der Basis des Kreuzes, stand Sean Rinn und zog, eine Hand nach der anderen, seine obszöne Kreuzigungsszene immer weiter am großen Kreuz in die Höhe. Er trug offensichtlich eine Kletterausrüstung mit Metallösen und Karabinerhaken an einem Brustgurt. Mulcahy interessierte aber vor allem das, was er in der Hand hatte: ein Stück straff gespanntes Seil, das in die Nacht hinaufführte und dann über ein kompliziertes Haltesystem zurück zu einem Haken im Betonboden vor Rinns Füßen.
Sollte er ihn überraschen? Mulcahy fragte sich, wo Cassidy blieb, konnte aber nicht länger warten. Er trat auf die offene Betonfläche und versuchte, in Rinns Rücken zu bleiben. Doch bevor er die Hälfte der Strecke geschafft hatte, musste Rinn seine Anwesenheit gespürt haben, denn er drehte sich um, worauf zuerst Panik, dann auch Erkennen sein Gesicht verzerrten.
»Stopp – keine Bewegung«, knurrte er. »Wenn ich loslasse, fällt sie. Und das überlebt sie nicht.«
Mulcahy rührte keinen Muskel, doch der Funke der Hoffnung entfachte in seiner Brust ein Lodern wie bei einer defekten Gasleitung. Sie lebte.
»Ach kommen Sie, machen Sie keine Dummheiten«, schrie Mulcahy in den Wind. »Machen Sie es nicht noch schlimmer. Lassen Sie sie runter. Es ist noch nicht zu spät.«
»Halten Sie den Mund«, schrie Rinn ihn an. »Seien Sie ruhig, oder ich lass sie fallen. Dann haben Sie sie auf dem Gewissen, nicht ich.«
Mulcahy riskierte es, einen Schritt weiterzugehen, aber das war ein Schritt zu viel. Rinn brüllte ihn an und ließ das Seil los. Als es durch seine Hand lief, stürzte Siobhan mit unglaublicher Geschwindigkeit auf den Betonboden zu. Dann, ebenso plötzlich, griff Rinn wieder zu und hielt das Seil fest. Auf das dumpfe Rums folgte ein lautes Stöhnen von oben. Mulcahy erstarrte, als Blutspritzer um sie herum auf den Beton prasselten.
»Okay, Sean, sehen Sie, ich bin stehen geblieben«, sagte Mulcahy, so ruhig er konnte, obwohl sein Gehirn vor Angst wie gelähmt war und er verzweifelt nach Worten suchte, die Rinn dazu brachten, das Seil festzuhalten. »Ich will Ihnen nur helfen, das Richtige zu tun. Ich weiß, dass Sie das Mädchen, Paula, nicht töten wollten. Und Siobhan da oben wollen Sie auch nicht töten, stimmt’s? Sie hat doch nichts getan, wodurch sie es verdient hätte, oder?«
»Verdient?«, brüllte Rinn. »Sie ist die schlimmste Hure von allen. Sie trägt das Symbol von Christus’ Opfer am Hals, während sie ihren Schmutz über alles und jeden ausgießt. Ich hab es ihr gesagt. Ich habe es allen gesagt, dass Gott sich nicht verspotten lässt. Aber haben sie mir zugehört? Doch jetzt werden sie mir zuhören …«
Etwas in Mulcahys Miene musste ihn verraten haben, vielleicht ein Blinzeln, denn Rinn wirbelte plötzlich herum und sah Cassidy von der
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