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Der Priester

Der Priester

Titel: Der Priester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerard O'Donovan
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dem zitternden Mädchen im Arm, das er in seine Jacke gehüllt hatte. Sie mussten etwas Wärmeres finden, eine Decke, ein Feuer. Mulcahy sah in den anderen Räumen im Erdgeschoss nach, entdeckte eine weiche Picknickdecke auf einem Küchenstuhl, warf sie Cassidy zu, der das Mädchen aufs Sofa setzte, dann stürmte er die Treppe hinauf. Nach wenigen Minuten hatte er jedes Zimmer des riesigen, dreistöckigen Hauses überprüft. Von Siobhan Fallon war nichts zu sehen. Von Rinn auch nicht.
    Im Obergeschoss entdeckte er jedoch ein kleines Zimmer, das wie eine Privatkapelle eingerichtet war. Auf einer Seite stand ein schmaler Tisch, der als Altar diente, mit einem bestickten Leinentuch, Kerzen und einem großen, goldenen Tabernakel. Darüber erleuchtete ein dünner, flackernder Lichtstrahl ein vergilbtes Herz-Jesu-Bild. An einer anderen Wand hing ein verblichenes Seidenbanner, auf das in fünfzehn Zentimeter großen Buchstaben in einem geschwungenen Bogen die Worte KONGREGATION VOM KOSTBAREN BLUT eingestickt waren. Es jagte Mulcahy eine Heidenangst ein, sagte ihm aber nichts. Wenn dies Rinns Versteck war, sein verborgenes Heiligtum, dann konnte er hoffen, hier zu finden, was er suchte. Mulcahy ging auf den provisorischen Altar zu. Auf dem gestärkten, weißen Leinentuch standen nur Kerzenhalter und ein kleines Holzkreuz mit einem grauen Zink-Jesus, der mit gezackten Nägeln daran befestigt war. Der Tabernakel hingegen war außergewöhnlich extravagant: groß, fast einen halben Meter hoch und reich mit Silber und Blattgold verziert. Allein der Anblick reizte Mulcahy, sich zu bekreuzigen, und rief starke Erinnerungen an seine kurze Phase als Ministrant wach. Vorne war eine goldverzierte Rosette über der Flügeltür, auf beiden Seiten flankiert von silbernen Heiligen, einer mit einem Buch in der Hand, der andere mit einem Schwert. Auf einem Fries, der das Ganze umrahmte, war immer wieder das Wort Sanctus eingraviert.
    Mit einem Taschentuch drehte Mulcahy behutsam den Schlüssel um, der aus dem Loch in der Mitte der Rosette herausragte, dann öffnete er beide Halbtüren mit einem Kugelschreiber. Drinnen glitzerte ein silberner Kelch mit vergoldetem Inneren. Dass er sich jedoch mit ungläubigem Blick atemlos weiter hineinbeugte, lag an dem, was hinter dem Kelch lag: sechs Holzkruzifixe, die genauso aussahen wie das vor dem Altar. An jedem dieser Kruzifixe hing allerdings ein weiteres Kreuz an einer Kette, das vor die Christusfigur drapiert war. Eins davon war ebenso groß wie das Holzkreuz, an dem es hing, mit abblätternder Goldfarbe bemalt und bunten Glasperlen geschmückt. Mulcahy nahm an, dass es sich um Grainne Mullins’ »Versace«-Kreuz handelte. Ein anderes, nicht ganz so großes, schlicht und aus Messing, war vermutlich das »Pfarrerskreuz«, das Caroline Coyle verloren hatte. Weiter vorne sah er ein fein gearbeitetes Goldkreuz, das an allen Spitzen große Brillanten hatte, und wusste, dass es das von Jesica Salazar sein musste. Er nahm an, dass die anderen Catriona Plunkett, Paula Halpin und wahrscheinlich Shauna Gleeson gehört hatten.
    Aber an dem Kruzifix draußen auf dem Altar hing noch kein Kreuz. Offenbar war jedoch alles dafür vorbereitet. Mulcahy schluckte.
    Er sah sich noch einmal um. Der Raum verriet ihm alles, was er über Rinn wissen musste, außer der einen Tatsache, die im Moment am wichtigsten war: Wo zum Teufel hatte er Siobhan hingebracht? Von draußen hörte er leises Sirenengeheul, dann rief ihn jemand von unten. Er lief aus dem Raum, doch als er im Erdgeschoss ankam, stand Cassidy schon im Schein der Blaulichter an der offenen Haustür, dirigierte einen Sanitäter in seinem gelb-grünen Overall nach hinten ins Wohnzimmer und schickte den anderen in die Garage, damit er sich um den Mann dort kümmerte.
    »Wie geht’s dem Mädchen?«, erkundigte sich Mulcahy.
    »Nicht gut. Das arme Kind«, sagte Cassidy, der jetzt selbst etwas blass war. Beide traten zurück, als eine weitere Sanitäterin mit krächzendem Walkie-Talkie an ihnen vorbeilief.
    »Haben Sie da oben was gefunden?«, fragte Cassidy.
    Mulcahy nickte. »Eine Art private Kapelle. Mit jeder Menge religiösem Zeug. Gar keine Frage, dass er es war. Die Kreuze der Mädchen sind da oben. Als Trophäen. Aber ich kann nichts finden, was er Siobhan abgenommen haben könnte.«
    »Haben Sie das Zeug hier gesehen?« Cassidy öffnete die schwere Holztür zum Speiseraum. Mulcahy hatte schon vorher einen kurzen Blick hineingeworfen, war dann aber schnell

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