Der Priester
paar Zitate der Ärzte herangekommen, die die beiden Mädchen behandelt hatten. Schlimmer war jedoch die Heftigkeit, mit der sie den Justizminister und den Garda Commissioner aufs Korn nahm und ihnen Inkompetenz und Untätigkeit vorwarf. Die armen Kollegen in der Pressestelle der Garda waren offensichtlich vollkommen überrumpelt worden – in der Zeitung wurde nur eins von Healys Statements erwähnt, und zwar das erste. Da stand es, Wort für Wort und aus dem Zusammenhang gerissen. Als es dann um den zeitlichen Abstand zwischen beiden Überfällen ging, wurde die Kritik geschmacklos. Die Bildunterschrift unter einem mehrere Jahre alten Foto von Brendan Healy lautete: »Hätte er mehr unternehmen können?«
Als ob das nicht gereicht hätte, wurde auf der folgenden Seite eine weitere bösartige Kampagne gestartet, dieses Mal gegen den Außenminister, der das Land beschämt hätte, indem er Soldaten einer fremden Nation – wenn auch einer befreundeten – erlaubt hatte, ein irisches Krankenhaus zu stürmen und eine Patientin mitzunehmen. Brächten die anderen EU -Länder unserem Gesundheits- und Rechtssystem so wenig Wertschätzung entgegen, dass sie uns ihre Bürger nicht anvertrauen wollten? Der Minister solle sein Amt unverzüglich zur Verfügung stellen.
Mulcahy wusste, dass das Politikgerede nur heiße Luft war. Das bedeutete allerdings nicht, dass nicht doch womöglich jemand dafür bezahlen musste. Er konnte sich die Folgen nur zu gut ausmalen: Jetzt waren zwei Minister und ein Polizeipräsident auf dem Kriegspfad, und Hunderte Untergebene strampelten verzweifelt, um aus der Schusslinie zu kommen. Alle suchten hektisch nach Antworten auf das unvermeidliche Fragenbombardement, dem sie sich im Dáil Éireann, dem Unterhaus des irischen Parlaments, ausgesetzt sehen würden. Außerdem brauchte man natürlich einen Sündenbock, den man den geifernden Medien zum Fraß vorwerfen konnte.
Und hinter dieser ganzen Sache steckte ausgerechnet die Frau, mit der er am Mittwoch das Bett geteilt hatte. Wie in Gottes Namen hatte das passieren können?
Die Frage beschäftigte ihn noch immer, als er um elf am Harcourt Square ankam. Brogans Bürotür in der vierten Etage war geschlossen, durch die getönte Scheibe sah er jedoch, dass Licht brannte, also steckte er den Kopf hinein. Brogan saß am Schreibtisch und sah fix und fertig aus. Er hatte nie gesehen, dass sie auch nur einen Blick in eine Zeitung geworfen hätte, doch jetzt lag ein ganzer Haufen auf dem Boden um sie herum neben den Aktenkartons.
»Wie geht’s?«
»Ich stecke gerade mitten im größten Schlamassel, den ich je erlebt habe. Was denken Sie also, wie es mir da gehen könnte?«, sagte sie und blickte von ihrer Akte auf. »Veranlassen Sie dies, prüfen Sie das, checken Sie nochmals den verdammten Mist. Deshalb …«, sie deutete auf die Aktenkartons, »… musste ich die wieder aus Ihrem Büro holen.«
Er zuckte die Achseln. »Auch das noch. Ziemlich übel, was?«
»Tödlich.«
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Nein«, sagte sie und senkte den Kopf. Dann, fast beiläufig: »Healy sagte, Sie sollten sofort zu ihm raufkommen.«
»Nach oben?« Healy bestellte fast nie jemanden in sein Büro im sechsten Stock, er tauchte lieber von Zeit zu Zeit unten auf und steckte seine Nase in anderer Leute Angelegenheiten. »Haben Sie eine Ahnung, was er von mir will?«
Brogan schüttelte den Kopf. »Ich hab selbst genug Scheiße am Hacken, da kann ich mich nicht auch noch um Ihren Kram kümmern.«
Er ging zurück zum Fahrstuhl und fuhr nach oben. Schon der Flur war besser und geschmackvoller eingerichtet, der höherwertige Teppichboden auf den ersten Blick erkennbar. Kaum war er aus dem Fahrstuhl getreten, versanken seine Schuhe auch schon im Garda-blauen Flor. Im Sechsten gab es keine Großraumbüros, sondern Flure mit Türen zu Einzelbüros. Vor einigen dieser Büros befanden sich noch kleine Nischen mit Schreibtischen und Computern, an denen die Sekretärinnen saßen. Die meisten davon waren heute, am Sonntag, verwaist. Nur Healys dauergewellte Sekretärin saß im Kostüm vor dem Büro und tippte.
»Sie können gleich hineingehen, Inspector«, sagte sie.
Abgesehen von der Standard-Schreibtischlampe hatte Healys Büro nichts mit Brogans gemein. Es war etwa viermal so groß und mit einem großen Eichenschreibtisch, Chefsessel und drei Monitoren ausgestattet. Auf der einen Seite des Raums standen eine Sitzgruppe sowie verschiedene Aktenschränke und
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