Der Prinz der Rache: Roman (German Edition)
schlimmer noch für die Herren der Stadt, die Arbeit von Jahren war zunichtegemacht, einige äußerst ergiebige Erzadern waren für immer verloren.
Esrahil Gremm rieb sich das müde Gesicht. Der Prozess war praktisch vorüber gewesen, bevor irgendjemand begriffen hatte, was da vorging. Wegen der alten Zerwürfnisse in der Familie hatte er sich zunächst zurückgehalten. Jetzt bereute er es. Seine Schwester hätte seinen Rat wahrlich gut brauchen können, er hätte sie vielleicht dazu bringen können, die Verbannung auf eine der Inseln zu wählen.
Er fluchte. Warum hatte sie ihn nicht um Rat gefragt? Warum war sie nur so stur und stolz? Warum brachte sie ihn jetzt in diese Lage, einen Brief an den Archonten, den Herrn der Stadt, verfassen zu müssen? Vierzehn Tage hatte es nur gedauert, von jenem Unglück bis zur Vollstreckung des Urteils, zu wenig Zeit, um irgendetwas zu unternehmen, und jetzt, jetzt war es für seinen Schwager zu spät.
Er blickte auf das Pergament und fühlte sich unglücklich. Er hatte das Gefühl, einen Fehler zu begehen. Aber was tat er schon? Er bat um Gnade für seine Verwandten. Sein bescheidenes Vermögen würde er nicht anbieten. Was hätte die schöne Rohana denn davon, wenn er auch noch sein eigenes Hab und Gut riskierte, mit so wenig Aussicht auf Erfolg? Sie war verstoßen, seit heute eine Vergessene. Es war streng genommen sogar verboten, sich überhaupt noch mit ihr zu befassen. Am Ende, wenn irgendjemand dort oben auf den Gedanken käme, er könne eine Gefahr darstellen, würde man ihn auch unter den Bann stellen, und dann?
Er las noch einmal die ungelenken Sätze. Dann setzte er doch noch ein paar Zeilen hinzu, in denen er darauf verwies, dass es den Himmeln wohl gefallen würde, wenn sich die ehrwürdige Stadt Xelidor und ihre weisen Diener gnädig zeigten. Viel war das nicht.
Gremm starrte missmutig auf das Blatt. Dann riss er sich zusammen und schrieb den ganzen Brief ins Reine.
Da nicht mehr von Zweifeln oder gar Fehlern des Gerichts die Rede war, und da er auch nichts anbot, sprach dort nicht viel mehr als die Verdienste einer langen Reihe längst ins Grab gesunkener Ahnen, an die sich niemand mehr erinnerte, zu Gunsten seiner Schwester und ihrer Familie.
Was würde der Archont denken, wenn er diese mageren Zeilen las? Würde er sie überhaupt zu Gesicht bekommen, oder würde dieses Schreiben bei seinem Kämmerer landen? Gremm lief es kalt über den Rücken. Feles Ajeler, der Kämmerer, war der Geschäftspartner seines Schwagers gewesen. Und hätte man nach Fehlern und nicht nach Verbrechen gesucht – der Blitz der Rechtsprechung, der Merson getötet hatte, hätte wohl beim Kämmerer eingeschlagen.
Gremm faltete das Pergament sorgsam zusammen und versiegelte es. Es wog schwer in seiner Hand. Ein Bittbrief, mehr war es nicht. Konnte ihm jemand verdenken, dass er sich für seine Schwester einsetzte? War die Familie nicht etwas Heiliges?
Oder würde man sich beim Lesen dieser Zeilen seiner bescheidenen Reichtümer erinnern und ihn mit in Haftung nehmen, so wie sie es mit seiner Schwester gemacht hatten? War es das, was ihm ein solches Unbehagen verursachte? Die Angst vor der Willkür derer, die die Stadt lenkten?
Er erhob sich und ließ den Brief auf dem Schreibtisch liegen. Er würde eine Nacht darüber schlafen, vielleicht auch zwei. Ja, es war Eile geboten, das war ihm bewusst, die Halde war ein gefährlicher Ort, aber zu große Eile hatte schon mehr Schiffe untergehen lassen als Stürme, wie die Seeleute sagten.
Er schlurfte mit der Kerze in der Hand die Treppe hinauf ins Schlafgemach. Seine Frau schien bereits zu schlafen. Er überlegte, ob er sie wecken sollte, um seine Sorgen mit ihr zu teilen, aber nein, es war gut, wenn sie Ruhe gefunden hatte. Er entkleidete sich. Eigentlich musste er sie nicht wecken, um zu wissen, wie sie über diese Sache dachte. Sie mochte seine Schwester nicht, und dafür gab es gute Gründe, unter anderem die Geschichte mit dem Erbe.
Er legte sich zu Bett und löschte die Kerze. Nein, Direne würde dieses Schreiben niemals gutheißen. Sie würde sich Sorgen machen, und das war nicht gut, wo sie doch krank war. Es war also besser, sie erfuhr erst gar nichts von dem Brief. Aber er war schlecht darin, sie zu belügen.
Esrahil Gremm schloss die Augen, wälzte sich erst auf die linke Seite, dann auf die rechte und fand keine Ruhe. Schließlich stieg er aus dem Bett, lief barfuß über die kalten Stufen hinab in sein Arbeitszimmer und nahm
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